Der Schleier des Erfolgs (Kurzgeschichte)

Vier Mal wurde gefeuert, vier Mal getroffen. Keine Ungenauigkeiten, kein Verwackeln, kein maschinelles Versagen. Ein tausendfach bewährter Prozess – schnell, billig, unkompliziert.

Vier Mal mussten reichen – Vier homogene Gesichter, vier starre Blicke. Acht Augen, zwei davon rot. Einmal Geld verschwendet? Offensichtlich, doch F. hatte gerade keine Zeit für Ärgernisse. In sechs Minuten musste er abfahrbereit sein.
Trotz der dringlichen Situation  warf F. einen zweiten Blick auf seine Abbilder, welcher fachmännisch erwidert wurde. Vier Mal vertrauenserweckender Ausdruck, vier Mal Seriosität auf Abruf. Kein Wunder, dass er befördert worden war! Zweifelsohne musste sein Arbeitgeber außerordentlich stolz auf ihn sein. Er zahlte und verließ die Passfotokabine.
Als F. um sieben Uhr neunundzwanzig das sechzehnte Gleis erreichte, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. An ihm lag es nicht – sein Zeitmanagement war schon immer tadellos gewesen. Wo war jedoch der Zug, in den er normalerweise  ohne Verzögerungen  einsteigen konnte? Der lückenlose Bewegungsablauf von der Treppe, die auf den Bahnsteig führte, bis zu seinem Platz im dritten Zugabteil war gewissermaßen sein tägliches Ritual der Selbstbestätigung, seine Versicherung dafür, dass er ein geregeltes Leben führte. Sieben Jahre lang  war er hier täglich mit offenen Türen empfangen worden, sieben lange Jahre war sein Niederlassen auf Sitz einundzwanzig das Abfahrsignal gewesen. Wie konnte sich ausgerechnet heute, ja, wie konnte sich überhaupt ein solches Malheur ergeben? Was sollte F. mit der dadurch entstandenen Freizeit anfangen? Eine Lautsprecherdurchsage verurteilte den ratlosen Mann zu 15 Minuten des Nichtstuns, der Ineffizienz.

Ich strahle. 15 Minuten Verspätung? Das sind 15 Minuten gefahrloser Aufenthalt am spannendsten Ort des Bahnhofs – den Gleisen. Wie oft schon bin ich an der Hand meiner Mutter dorthin gezogen worden, nicht, um meine Neugier zu befriedigen, sondern, um einen Zug zu betreten? Heute werde ich erfahren, welche Schätze sich zwischen den Schienen verbergen. Leider haben meine Eltern andere Pläne; sie setzen sich mit mir ins nächstbeste Café. Als ob eine Limonade meinen Forschungsdrang befriedigen könnte! Da alles Betteln nichts hilft, muss ich zu radikaleren Methoden greifen. Im ersten Moment der elterlichen Unachtsamkeit entreiße ich mich dem mütterlichen Griff, weiche väterlichen Fangversuchen aus und bin im nächsten Augenblick zurück auf dem Bahnsteig. Die hinter mir zuschnappende Schiebetür lässt  zeternde Erwachsene verstummen und muffige Caféluft  verfliegen.  In freudiger Erwartung beschleunige ich meine Schritte. Was werden wohl meine Freunde für Gesichter ziehen, wenn sie von meinen Erlebnissen erfahren? Ich werde ein Held sein. Immer schneller tragen mich meine Füße Richtung Gleis sechzehn. Zu schnell. Da ist auf einmal ein grimmiger blickender Anzugträger im Weg, den ich nicht mehr umrunden kann. Es kommt zur Frontalkollision.

F.´s Gesichtszüge entgleisten. Fassungslos blickte er an sich herunter. Sein teuerstes Jackett, seine beste Hose – alles durchnässt von klebrigem Kaltgetränk! Das lag eindeutig außerhalb seines Toleranzbereichs. Dieses hämische Kind, das da vor ihm saß, hatte gerade seine berufliche Zukunft gefährdet! Wer solche Untaten vollbrachte, gehörte bestraft.
„Du…“, begann er seine Rüge. „Das… solch ein… was…“. Langsam musste er die Fähigkeit, deutsche Sätze zu bilden, wiedererringen. Er holte tief Luft und fixierte den gewissenslosen Flegel, der sich nun langsam vor ihm aufrichtete. Er konnte nicht sagen, woher, aber er kannte den Jungen. Eine undeutliche Figur fand den Weg in seinen Hinterkopf, eine Frau offenbar, vor der er sich einmal schrecklich gefürchtet hatte. Schnell schüttelte F. den Gedanken ab. Er hatte hier einem Übeltäter klare Grenzen aufzuweisen, dessen Eltern es offenbar versäumt hatten, seine schändlichen Triebe bereits im Keim zu ersticken. Eine exzellente Gelegenheit, bewährte Erziehungsmethoden anzuwenden.

Mir wird einiges klar, als der grimmige Mann zu schreien beginnt. Sein viel zu enger Anzug, sein lächerlich verspanntes Gesicht und einige andere Details wie seine komischen, mit den geschmacklosesten Mustern überzogenen Lackschuhe fügen sich während seiner Standpauke zu einem Gesamtbild zusammen, welches keinen Zweifel zulässt – der Mann ist Jurist. Ich muss mir für die restliche Predigt ein bemitleidendes Lächeln verkneifen. Die Floskeln, die er mir an den Kopf
wirft –  fahrlässige Sachbeschädigung, Missachtung der örtlichen Geschwindigkeitsbegrenzung, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit – bestätigen meinen Verdacht. Leider kann ich mich nicht auf seinen Moralappell konzentrieren, da ich ständig wehleidige Blicke zur Bahnhofsuhr werfen muss. Bereits acht Minuten meiner kostbaren Zeit sind verstrichen und die Chancen stehen gut, dass ich die Bahngleise heute nicht mehr betreten werde. Innerlich verfluche ich mein Gegenüber und frage mich, wie man freiwillig ein solcher Mensch werden kann. Vielleicht hat er als Kind ähnliche Vorträge zu hören bekommen wie ich gerade. Glücklicherweise kommen meine Eltern angerannt und befreien mich aus meiner misslichen Lage, bevor ich ihn danach fragen und eine weitere Zurechtweisung riskieren kann. Im Gegensatz zum Gerede des Mannes ist mir sogar das überfüllte Café lieber – auch, wenn ich nun das Erkunden der Gleise vergessen kann.



Schade, dass F. seinen Erziehungsauftrag nicht mehr zu Ende bringen konnte. Aber vielleicht hatte er den Eltern ja einen kleinen Denkzettel verpasst und sie würden in Zukunft ein wenig mehr auf die Manieren ihres Kindes achten. Immerhin stand F. wegen diesem Flegel nun in einem klatschnassen und klebrigen Anzug auf dem Bahnsteig, ein Zustand, den auch die kühle Morgenluft nicht unbedingt verbesserte. Allein beim Gedanken an das hämische Lächeln des Jungen, als er F. entgegengelaufen war, begann er nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Wut zu zittern. Er ballte seine Fäuste und rammte sie tief in die Hosentaschen, normalerweise ein bewährtes Verfahren zum Aggressionsabbau.  Diesmal jedoch hielt F. inne – es fehlte etwas. Hatte er nicht seine Passfotos in der linken Tasche aufbewahrt? Nun konnte er dort nur Futter ertasten. Das vermeintliche Mysterium klärte sich jedoch schnell, als F. verwirrt an sich hinabblickte. Die Fotos waren wohl bei der Kollision mit dem Jungen aus seiner Tasche gerutscht – und eine halben Meter weiter im Matsch gelandet, wie der sowieso schon gereizte F. feststellen musste. Dieser Idiot hatte ihm den Morgen nun endgültig ruiniert!  Was für eine Geldverschwendung. F. hob die verdreckten Abbilder seiner Selbst auf und versuchte, sie so gut es ging zu säubern. Nur langsam ließ sich der während seiner Rede offenbar ziemlich gut getrocknete Matsch abkratzen, doch schließlich war das dritte Foto auf dem Viererbogen wieder erkennbar. Leider hatte die Limonade ihm augenscheinlich übel zugesetzt, denn F.´s gesamtes Gesicht war auf eine ausgesprochen hässliche Weise verwischt.  Verärgert machte er sich daran, das Bild darüber freizulegen. Er begann beim perfekt sitzenden Hemdkragen, arbeitete sich langsam bis zum verfärbten Kinn vor – und erstarrte. Sein Mund, falls man ihn noch so bezeichnen konnte, war ein auf die gesamte Gesichtsbreite gestreckter, fleischiger Wulst. F.´s Ekel, doch gleichzeitig auch seine Neugier waren geweckt. Wie konnte so etwas passieren? Er kratzte mit einer Münze aus seinem Portemonnaie den restlichen Schmutz von allen Bildern. Mit jedem freigelegten Quadratzentimeter Bildfläche wuchs in ihm der Reiz, laut zu schreien, den Fotobogen zu zerreißen und die Schnipsel weit von sich zu schleudern. Seine Gesichter sahen aus, als wären sie gründlich mit Hochspannungsleitung und Vorschlaghammer bearbeitet worden. Aus den grotesk verzerrten Gesichtszügen sprach ein Wahnsinn, der in solcher Stärke unmöglich jemanden ergreifen konnte. Und doch hatte er es auf diesen Bildern getan. Minutenlang starrte F. unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, auf diese Abbilder des Grauens. Er verstand nicht, wie ein simples Foto eine solche Wandlung vollziehen konnte. Er sagte sich, er bilde sich das Geschehene nur ein – aber war das wirklich beruhigender? Das bedeutete, dass F. langsam verrückt wurde. Seine Gedanken kreisten in rasendem Tempo, unfähig, sich zu ordnen. Er beschloss, einen Spiegel zu suchen. Langsam stolperte er über den Bahnsteig, immer darauf bedacht, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihm war schrecklich unwohl. Das Dach der Bahnhofshalle schien immer näher zu kommen und die Fassaden der Läden bedrängten ihn. Wenn der Bahnhof um diese Zeit nicht menschenleer gewesen wäre, hätte F. wohl unter massiver Platzangst gelitten. Er stützte sich erschöpft am Schaufenster eines leeren Geschäfts ab. Hier war er außerhalb der Sichtweite jeglicher Cafégäste und das war gut; in diesem Zustand sollte ihn keiner zu Gesicht bekommen. F. hob den Kopf und blickte direkt in ein weiteres Bild des Grauens. Sein Gesicht war tatsächlich wie auf den Fotos  zugerichtet, verschmolz aber langsam zu einer glatten, grauen Fläche. Er legte sich die Hände auf das Gesicht und fühlte, wie jegliche Konturen seinen Fingern entschwanden. Er wollte schreien, aber seine Lippen wuchsen zusammen. Blind durch den Verschluss seiner Augenhöhlen sank er schließlich auf die kalten Fliesen des Bahnsteigs.
Nun hatte F. aber nicht viel Zeit, den Verlust seiner Visage zu betrauern, denn er spürte, wie der Boden unter ihm langsam nachgab. Er sank immer tiefer in die weich werdenden Fliesen ein. Unfähig, zu atmen oder zu schreien, mit nichts als den Schreckensbildern seines Gesichts vor dem inneren Auge, glitt er langsam hinab ins Ungewisse, in das Chaos, das er unter sich wähnte. Er wollte aufstehen, doch seine bleischwere Aktentasche zog ihn hinab. Und nun begann F. zu verstehen. Die Fassade seines bisherigen Lebens, ihr charakterliches Fundament – das war es, was ihn gefangen hielt. Er warf die klobige Tasche von sich und entledigte sich des Maßanzugs. Er stemmte sich aus dem weichen Boden und fand auf die Füße. Er schleuderte seine hässlichen Lackschuhe fort und überquerte den Bahnsteig barfuß, in Unterwäsche. Sein Ziel waren die Gleise . Wie oft schon war er als Kind an der Hand seiner Mutter dorthin gezogen worden, nicht, um seine Neugier zu befriedigen, sondern, um einen Zug zu betreten? Wie oft hatte er vergebens versucht, diesen Ort zu erreichen, gestraft von elterlicher Hand? Heute würde er erfahren, was er als Kind hatte wissen wollen. Und warum nicht? Was war falsch daran, ein wenig seine Freizeit auszukosten? Langsam schälte sich aus der grauen Hülle seines Gesichts ein breites, kindliches Lächeln. Langsam nahm sein Sichtfeld gewohnte Ausmaße an; Luft strömte durch seine Nase. Er schwang sich beherzt auf die Schienen. Sein ganzes Leben hatte er diesen sehnlichen Wunsch und so manch anderen verdrängt, war brav gewesen, hatte studiert, hatte Anzüge getragen, Kunden gewonnen, Profit gemacht, seine Eltern mit Stolz erfüllt. Dabei hatte er sich selbst komplett außer Acht gelassen; sehr zum Leidwesen seines Charakters. In F.´s Hosentasche befanden sich noch die Abbilder seines alten Innenlebens; er widerstand dem Impuls, hinzulaufen und sie zu zerreißen. Als er da so auf den Schienen stand, war F. zufrieden mit seinem Leben. Er wollte nicht mehr in seinen Zug steigen und zu seiner Arbeit fahren; er wollte bis ans Ende seiner Tage hier stehen und sich wie ein Kind fühlen. Besondere Schätze gab es leider nicht auf den Gleisen, aber das war Friedrich herzlich egal.

Ich höre in der Ferne den Zug und sitze trübselig hinter einer neuen Limonade. Meine Eltern unterhalten sich über Wirtschaft, Sport, Politik und Gesellschaft. Ab und zu streicht mir meine Mutter durchs Haar und schaut mich liebevoll an; dann lächle ich zurück, aber sie ist schon beim nächsten Gesprächsthema. Gelangweilt blicke ich aus dem Fenster. Eine Taube sucht zwischen den kalten Bahnhoffliesen nach Essensresten, ein Mann in Unterwäsche steht auf den Gleisen, eine
Litfaßsäule  dreht endlose  Kreise… ein Mann in Unterwäsche steht auf den Gleisen!
Ich ziehe am Ärmel meiner Mutter und deute hinaus. Nach drei Sekunden ausdrucksloser Verwirrung weiten sich ihre Augen. Sie springt auf und läuft mit mir und Vater aus dem Café. Der Mann auf den Gleisen dreht sich um – es ist der grimmige Anzugträger. Aber er ist nicht mehr grimmig. Ich bleibe stehen. Er schaut mir lange und tief in die Augen. Dann schenkt er mir das herzerwärmendste Lächeln, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Ich rufe, dass er wegen dem eintreffenden Zug von den Gleisen kommen soll, aber er scheint weder mich noch meine Eltern zu hören. Der freundliche Unterwäscheträger zeigt auf etwas, das ein paar Meter von mir entfernt liegt. Bei näherer Betrachtung entpuppt es sich als sein Anzug. Als ich mich darüber beuge, trifft der Zug im Bahnhof ein. Der Mann lacht, meine Eltern schreien, ich durchsuche die vielen Taschen des Anzugs. Aus der linken Hosentasche ziehe ich verwirrt Passfotos. Ich bin auf den Bildern! Woher hat dieser Mann meine Bilder? Nein, Moment, das fotografierte Kind sieht mir zwar ähnlich, aber bei genauerer Betrachtung unterscheiden wir uns ziemlich deutlich. Eine Durchsage unterbricht meine Überlegungen: „Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund eines unglücklichen Zwischenfalls fährt der Zug auf Gleis 16 mit einer erneuten Verspätung von 15 Minuten ab. Wir bitten um Ihr Verständnis.“ Ich strahle. 15 Minuten Verspätung? Offenbar geht mein Wunsch doch noch in Erfüllung.