Ein weißer Raum (Kurzgeschichte)

Ich fragte einen ergrauenden Mann, den ich schon lange ob seiner Weisheit bewunderte, wie er nur so einsichtig in die Welt  hatte werden können.

„Oh!“, lachte er daraufhin herzlich, „das haben sich schon viele gefragt. Du aber bist der Erste, der es mich frägt. Darum will ich dir antworten.“

Er führte mich vor meine Wohnung, blieb dort eine Weile stehen und musterte, wohl tief in Gedanken versunken, den grauen Putz. Schließlich meinte er: „Geh nur hinein. Du benötigst lediglich Zeit, um nachzudenken.“

Ich erschrak darüber und wollte dem weisen Mann erwidern, meine Zeit wäre sehr knapp – daher hätte ich ihn überhaupt aufgesucht. Sollten mir zur Weisheit etwa meine letzten paar Tage genügen, während er selbst sie viele lange Jahre gesucht hatte? Über diese Ungerechtigkeit wurde ich innerlich sehr wütend, aber ich hütete mich, einen weisen Mann zu beleidigen. So gab ich ihm zerknirscht besten Dank und trat durch meine Tür.

Die ganze Wohnung aber war zu meinem Staunen einem einzigen weißen Raum gewichen, den nur noch mein furnierter Schaukelstuhl schmückte. Im ersten Moment war ich entsetzt darüber und sorgte mich um meinen übrigen Besitz. Die Sachen aber konnten mir beim Überlegen sowieso keine Hilfe sein; ich ließ mich also einigermaßen beruhigt in den Schaukelstuhl sinken und dachte nach. Wie ich derart grübelnd über meinem Leben saß, breitete sich ein wohliges Behagen in mir aus. Das Nachdenken brachte mir tiefe Befriedigung und ich fragte mich, wieso ich nicht früher damit angefangen hatte. Nach kurzer Zeit fiel mir auch die Antwort ein und ich musste herzlich über mich lachen, eben so, wie es der weise Mann getan hatte.

Bald hatte ich meines Erachtens genügend Weisheit erlangt, um meine übrigen Tage in friedlicher Gewissheit verleben zu können. Ich erhob mich also leicht zitternd aus dem Sessel und schlurfte zur Tür, die aber verschlossen war. Ich hatte sie doch ganz bestimmt nicht abgesperrt! Über diese Begebenheit geriet ich sehr ins Grübeln, sodass ich mich wieder in den Schaukelstuhl setzen musste. Als ich so vor und zurück wippte und überlegte, was die verschlossene Tür zu bedeuten hatte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich würde diesen Raum nicht mehr verlassen.