Grauschleier (Kurzgeschichte)

In den Reflexionen der Bahnhofspassage, die von der verspiegelten Decke, von glänzenden Metallstreben und Überwachungsmonitoren zurückgeworfen wurden, fand er sich selbst. Sein Ebenbild huschte an einer Säule vorüber oder ließ sich von einer Kamera erfassen, starrte ihm stets von oben entgegen, wie er da stand, während um ihn herum die Anderen vorbeiströmten. Am liebsten verfolgte er es auf den Monitoren, wenn es irgendwo anders hinschaute und sich dabei beobachten ließ. Deswegen suchte sein Blick ständig nach diesen Außensichten und sah sich doch meistens nur unnahbar von spiegelnden Flächen blitzen. Was war es, das ihm da von allen Seiten begegnete? Unschlüssig ließ er sich den grauen Granit des Ganges entlangziehen und -stoßen. Die Passage zersplitterte in ihren Spiegeln zu einer unendlichen Masse, die seine Blicke krümmte und verschluckte. Zwischen den substanzlosen Mustern übersah er fast seinen Aufzug. In seiner unauffällig gläsernen Umfassung hing er an Stahlseilen und einem mattschwarzen Kabelstrang ins Untergeschoss hinab. Eine Berührung setzte die Maschine in Gang. Sie hob in ihrer Kabine zunächst den Kopf einer Frau, ihren dürren Oberkörper, dann zwei Beine und eine bauchige Einkaufstasche aus dem Boden. Er sah dieser Frau überrascht entgegen – zu überrascht eigentlich, denn warum sollte sie nicht diesen Aufzug benutzen? Vor allem ihre riesige Tasche rechtfertigte das. Zerknitterte Prospekte quollen daraus hervor, dazwischen Andeutungen von Schmutz und Dingen. Ein Einkauf? Die Frau lehnte neben ihrer Tasche und rauchte mit einer Hand; die andere fuhr durch ihr schütteres Haar. Er setzte ein Lächeln auf und wartete, bis die Maschinerie zum Stillstand kam, schaute dabei in der Passage umher – nicht, dass sie meinte, er würde sie anstarren.

Ihm wallte abartiger Gestank entgegen, als die Glastür zur Seite glitt. Die Mischung aus Qualm und Moder, die zwischen den glatten Glaswänden aufgestaut lag, traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Er stolperte zwei, drei Schritte zurück, drehte sich zur Seite, schaute auf einen Plan zu seiner Linken, dann auf seine Uhr, dann auf das Handy, das seine Rechte schon gezückt hatte. Sieben Uhr vierzig. Wieso stand er hier gleich wieder? Die Kabine glitt schon wieder abwärts, die Frau musste den Knopf gedrückt haben. Da hatte er den Aufzug tatsächlich verpasst – wie ärgerlich. Aber das war kein Problem, er würde ihn gleich zurückrufen. Zwei Schritte vorwärts, ein Knopfdruck, ein Schritt zurück. Seine Bahn fuhr in sechs Minuten. Zeit genug, um Aufzug zu fahren. Er setzte wieder sein müdes Fahrgastlächeln auf und schaute sich durch das Glas und die zitternden Kabel hindurch die anderen Menschen an. Sein Blick folgte ihren Wegen tief in die Spiegelungen hinein, bis ein kaum merklicher Ruck der Stahlseile seine Aufmerksamkeit zurückholte. Die Kabine war im Untergeschoss angekommen, jetzt wurde sie wieder nach oben gezogen. Dasselbe Zittern der Kabel und dieselbe Frau in der Ecke. Würde sie jetzt aussteigen? Die Tür glitt zur Seite; die Frau lehnte im Gestank und zog an der Zigarette. Er beobachtete, wie sie sich zu ihrer Tragetasche hinunterbückte und darin wühlte, den Stummel zwischen ihre rissigen Lippen geklemmt. Sie zog eine Flasche aus pinkem Plastik aus der Tasche und begutachtete sie, nickte dann und grinste. Dabei rutschte ihr die Zigarette von der Unterlippe und verschwand zwischen den Prospekten. Sie schien verärgert, raufte sich die Haare und fuchtelte mit den Händen, kramte dann in ihrer Hosentasche. Das Feuerzeug, das sie hervorzog, fiel ihr aus der Hand. Er zuckte zusammen, als es den Boden traf. Schnell schaute er auf den Plan zu seiner Linken, studierte das Geflecht aus Verkehrslinien, bis ihm auffiel, wie dämlich er sich doch verhielt. In diesem Aufzug, den er benutzen wollte, befanden sich eine Frau, eine Einkaufstasche und Gestank. Waren das wirklich Unerträglichkeiten, die ihn zurückhalten sollten? Schon wieder schloss sich die Tür und die Kabine rauschte abwärts. Er blickte erneut auf seine Armbanduhr. Er musste sich einen Ruck geben und einsteigen, wenn der Aufzug wieder oben angekommen war. Sehr bestimmt drückte er diesmal den Knopf, tippte beim Warten mit der Fußspitze auf den Granitboden, probierte mit Blick auf den Sekundenzeiger seiner Uhr schon einmal aus, wie lange er die Luft anhalten konnte – vielleicht würde sein Lungenvolumen ausreichen, um dem Gestank zu entgehen. Schnell begann die Passage in seinen Augenwinkeln zu flimmern, ihre Zersplitterungen sickerten durch die Spiegel in den Raum hinein. Unruhig bewegte er den Kopf, hielt sich die Nase zu, trippelte auf seinen Füßen, doch schon nach dreißig Sekunden musste ­er den angehaltenen Atem mit einem gewaltigen Seufzer ausstoßen, dass ihm beinahe schwarz vor Augen wurde. Er fasste sich an die Schläfen, schwankte ein wenig, während er in einigen flachen Atemzügen die braungraue Luftmischung der Passage einsog. Die Maschinerie des Aufzugs hatte ihren Wendepunkt schon wieder überschritten, die Frau wurde ein drittes Mal aus dem Boden gehoben. Sie schien ihm für einen Moment weit weg und schwarz umrandet wie durch ein Fernglas. Dann glitt die Tür zur Seite.

Der Gestank verschlug ihm fast auf ein Neues den Atem, doch er gab sich einen Ruck und trat in die Kabine, sah sich direkt der Frau gegenüber, die ihn nicht beachtete. Sie hatte sich von irgendwoher eine neue Zigarette genommen und angezündet; ihr verstohlener Anblick brachte ihn ins Grübeln. Brauchte sie Hilfe? Er überlegte, ob er ihr etwas Geld geben sollte. Sein Blick begann die unmittelbare Umgebung der Frau abzutasten; da gab es nur die Einkaufstüte mit ihrer pinken Plastikflasche. Das war Waschmittel. Er schloss die Augen. Wer Waschmittel besaß, hatte mindestens ein Haus mit Waschmaschine, in das er heimkehren konnte. Wie würde es so jemand auffassen, wenn man ihm Geld zustecken wollte? Als Erniedrigung. Nein, die Frau würde kein Geld nehmen, so gerne er ihr welches gegeben hätte. Vielleicht war sie einfach verwirrt? Den Eindruck konnte man ja als Außenstehender bekommen, so, wie sie da in der Ecke hing und Rauch an die Decke blies. Sie fand womöglich ihren Weg nicht, den Weg zu ihrem Zuhause, wo die Waschmaschine stand. Und der Bahnhof war ja auch groß; keine Schande, sich da zu verlaufen. Vielleicht war ihr mit einer einfachen Auskunft schon geholfen? Die konnte er erteilen, immerhin kannte er sich hier aus, war öfter zugegen. Er sah die Frau an; je länger sein Blick unerwidert auf ihr verweilte, desto stärker wallte in ihm das Bedürfnis auf, etwas zu sagen. Undurchsichtig sammelten sich die Worte zusammen und zirkulierten in seinen Atemzügen, bis sie endlich vom Bild eines erwartungslosen Lächelns zusammengefädelt aus ihm hervorbrachen.

„Entschuldigung, kann man Ihnen helfen?“

In der Stille hob die Frau unmerklich ihren Kopf, fast so, als hätte sie ihn gehört. Die Hand mit der Zigarette fiel ihr aus dem Mund; ihre Augen rollten und für einen Sekundenbruchteil fuhr ihr grauer Blick durch sein Gesicht wie ein Löffel durch ranzigen Sahnepudding, eiskalt und schneidend. Dann fiel er auf ihre Zigarette zurück. Die Frau hob sie wieder an den Mund und nahm einen tiefen Zug.

„Gehen Sie weg.“ Die Rauchwolke schleppte sich aus ihrem Mund in Kringeln aufwärts. „Gehen Sie da raus. Oder… ich weiß nicht.“ Ihr Blick hing an der blanken Ferne der Glaswand. Er fühlte, dass er zu schwitzen begann, heiß und fettig ekelten sich die Tropfen über sein Gesicht. Die Luft im Aufzug schien sich auszudehnen, der Gestank fauchte ihn an, trieb ihn zu Rückwärtsschritten. Als er nach Luft schnappen wollte, fiel ihm der Mund auf, ein „Gut“ taumelte hinaus, er setzte noch zu einem „Tut mir leid“ an, das die Frau schon nicht mehr erreichte, denn er stand draußen. Die lauwarme Passage hatte ihn wieder, und er sah die Glastür des Aufzugs vor sich zugleiten. Die Maschine begrub den Gestank unter Schläuchen, Zahnrädern und Stahlseilen. Schnell setzte er noch ein paar weitere Schritte rückwärts, freute sich insgeheim, dass er rückwärts gehen konnte, war er doch eigentlich vor Schreck gelähmt. Dann verging ihm aber die Lust daran, und so blieb er in der belebten Halle stehen, mit zittrigen Beinen, während vor ihms, hinter ihm, neben ihm die Menschen vorbeiströmten, und starrte überallhin, auf die Pläne und ihre Spiegelungen, als suchte er nach seinem Weg, irgendwohin, bloß nicht durch die Aufzugtür. Blaue Hinweisschilder wiesen jeden in alle Richtungen, aus jeder Richtung kam jemand und sah ihn kaum stehen und unentschlossen immer wieder in jede dieser Richtungen schauen – bis ihm unverhofft eine Erkenntnis entgegensprang, die sich in einer geradezu kindlichen Freude auf seinem Gesicht niederschlug. Es gab ja auch eine Treppe.