Nachtwanderung (Fragment)

Ich will schon lange etwas mit diesem Bild anfangen, das mir von Zeit zu Zeit im Kopf umgeht. Das, wo ein Mensch in einer dunklen Ebene liegt und trotz der Dunkelheit klar zu sehen ist, mehr, als befände er sich in einem lichtdurchfluteten Raum mit perfekt schwarzen Wänden. Aber wenn er aufsteht und ein paar verwunderte Schritte setzt, nähert sich nichts, ändert sich auch die Umgebung in keiner Weise, die eine Bewegung erahnen ließe. Nur milchig-weiße Blätter, die um ihn herum zu Boden schweben. Doch auch sie sind nicht mehr da, wenn er ihnen beim Fallen zusieht. Seit er aufgestanden ist, zieht er ein staunendes Gesicht, als wüsste er nicht, wer er ist und was er getan hat. In geradezu kindlicher Neugier bewegt er sich vorwärts, oder wie auch immer man diese Richtung nennen möchte. Und wenn er eine Hand ausstreckt, zerbricht der Raum, den er berührt, es strömt Blut aus der Leere, das seine Finger verklebt und kreischend zwischen den Scherben zu Boden fällt. Er will das nicht; wenn er den Tropfen nachsieht, sind sie nicht mehr da. Auf seinen Hemdärmeln glaubt er rote Spritzer zu entdecken, also krempelt er den schneeweißen Stoff hoch und zieht in kaltem Staunen weiter. Hinter ihm ­verklingen noch die Schreie, wo das Blut tiefrote Lachen gebildet hat. Seine Schuhe haben sich darin vollgesogen und hinterlassen Abdrücke auf dem Boden. Seine Füße fühlen sich warm und klebrig an, aber wenn er sich bückt oder umdreht, um nachzusehen, ist da nichts. Er geht noch verwunderter weiter, ohne zu ahnen, wie in weiter Ferne die Bluthunde schon seine Spur wittern und zu einer erbarmungslosen Hatz ansetzen, ihn zu zerreißen, wie niemand es verdient hat, nicht einmal er. Sie jagen diesem ahnungslosen Menschen hinterher, durch all die unbeachtet überfüllten Straßen, die golden in Marmor eingelassenen Leitlinien strotzender Kaufhäuser, Parkhäuser, Schauhäuser, in deren Ecken sich das Blut an die Wände klammerte, übersehen, bis die Verzweiflung es zu Boden peitschte, die Aufzüge hinauf und wieder hinab und mit rot angelaufenen Augen hinaus in den abendlichen Lärm, der doch nie laut genug war, schläfrige Zweifel zu überdecken, die sich bald nicht mehr überhören ließen, hinein, wie sie in jeder Ritze, hinter allen Wänden und in den Augen in Blut gurgelten und erstickten und ihn immer nur erstaunten, wie insgeheim überhaupt alles, die ewigen Fragen, das unnachgiebige Verstreichen der Zeit, die vielen Menschen und Toten. Erstaunten, nicht bewegten, sodass er nach wie vor durch die herabsinkenden Blütenblätter streift, seine Blutspuren zieht und nicht um seine Verfolger weiß. Auch aus seiner Nase rinnt Blut, als würden seine Gedanken sich gegenseitig niedermetzeln. Aber wenn er sich ins Gesicht greift oder versucht nachzudenken, ist da nichts. Und wann immer er wieder die Hand ausstrecken will, eines der Blätter zu fassen, verschwindet es und der Raum zerbricht. Dann zieht er sie blutrot zurück und schaut kurz um sich, bis er vergessen hat, warum er stehen geblieben ist. Dieses Bild manifestiert sich manchmal vor meinen Augen, und ich weiß nicht recht, was ich damit anfangen soll, außer mich darüber zu wundern. Den Menschen kann ich nicht einordnen und ihn weder zum Stehen noch zum Rennen bringen. Wenn ich versuche, Mitleid für ihn zu empfinden, spüre ich nur, wie etwas in mir zu zerbrechen droht, und lasse es lieber sein. Im Grunde genommen finde ich auch, dass dieser Mensch nach alledem gar kein Mitleid verdient hat. Dementsprechend bin ich mir keiner Schuld bewusst.