Wurzeln und Zügel (Kurzgeschichte)

Es klopft an der Tür, laut und energisch. Der Psychiater schreckt aus seinem Schlaf hoch.

Psychiater: Kommen Sie nur herein, die Tür steht Ihnen offen.

Patient: Oh, ich brauche Ihre Tür nicht. Bin schon drin.

Der Patient bleibt stehen, andächtig den Raum in sich aufnehmend.

Wissen Sie, mir gefällt Ihr Büro. Ein großer Formaldehydtank. Was immer mich dort draußen herumtreibt, hier können wir es eingießen und verachten.

Psychiater: Ich freue mich, Sie vor mir  zu sehen. Blättert in der Akte. Nun, wir wollen einmal –

Patient lässt sich in den Sessel sinken: Sparen Sie sich das Blättern, von Mord- bis Fluchtversuch alles wie gehabt. Die Anklage lesen Sie doch eh jede Sitzung, verstehe ich gar nicht – stümperhaftes Dokument.

Psychiater: Nun, eigentlich wollte ich mir nur das letzte Gutachten in Erinnerung rufen. Aber Sie haben Recht, lassen wir das. Zerreißt eine Seite voller Kritzeleien. Ihr körperliches Wohlbefinden? Mens sana in corpore sanis, wissen Sie.

Patient: Ebenso gut wie Ihres. Das macht Sie per Definition verrückt, nicht?

Psychiater notiert unleserliche Worte: Mhm, das ist erfreulich. Halten Sie Ihren Zustand. Nächste Routinefrage – neuerliche Wahnvorstellungen? Seufzend Ich habe hier ein Formular mit Kästchen, wissen Sie.

Patient: Gesamter Alltag, jeglicher Menschenkontakt. Das können Sie in Ihr Kästchen schreiben, für die Schwester. Der ist es sowieso egal.

Psychiater: Die Notizen dienen vornehmlich meinen eigenen Überlegungen. Aber gut, ich werde das notieren. Notiert unleserliche Worte Der Medikationsplan?

Patient: Wird vehement angefochten und nur dank den beigemischten Suchtstoffen eingehalten.

Psychiater: Es wäre ein wesentlicher Fortschritt in unserer Therapie, wenn Sie anderen vertrauen lernen könnten. Niemand mischt Ihren Medikamenten Suchtstoffe bei, das garantiere ich.

Patient: Ich vertraue Ihnen doch. Sie wollen nur mein Bestes und das Übrige ausmerzen, ich weiß. Deswegen lügen Sie mich ja an.

Psychiater notiert: Eine Aberatio mentalis, mhm, ich verstehe.

Patient: Hören Sie nur mit diesen erfundenen Fachbegriffen auf, das weckt doch kein Vertrauen. Verwenden Sie wenigstens die eingepaukten Studienbegriffe.

Psychiater: Ach, das ist schon so lange her… außerdem will ich nicht der Versuchung erliegen, Ihrem Problem durch etwaige Kategorisierung mit einer Lehrbuchlösung zu begegnen. Sie sind etwas Besonderes, müssen Sie wissen.



Patient: Mir schmeichelt Ihr Narzissmus, aber ich muss Sie enttäuschen. Auch ich habe Psychologie studiert, müssen Sie wissen, und weiß mich daher auf die Seite genau in den Lehrbüchern Sigmund Freuds nachzuschlagen.

Psychiater: Bitte, nicht so laut, diesen Namen. Das ist doch Gewäsch des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie wollen damit wohl auf Ihre Triebe hinaus?

Patient: Nein, vielmehr auf deren Zaumzeug, dieses selbsthassende Konstrukt, das den Menschen zum Gesellschaftstier erniedrigt. Ich kann mit Stolz behaupten, mich von diesem Ekel getrennt zu haben.

Psychiater: … und doch suchen Sie Rat bei einem anerkannten Psychiater.

Patient: Nein, Sie suchen Bestätigung bei einem anerkannten Irren.

Psychiater: Bitte um Sachlichkeit, Sie sind der zu Behandelnde.

Patient: Ihre Definition gegen mein Empfinden. Ein ungleiches Spiel, haben Sie doch bereits Ihre Überlegenheit definiert.

Psychiater: Ach, das ist Ihr Bedenken? Ich versichere Ihnen, wir begegnen uns auf gleicher Ebene, zwei Menschen –

Patient: Einspruch.

Psychiater: Wir reden aneinander vorbei. Ich meinte –

Patient: Das ist es. Meine Argumente sind keine. Ihre Argumente verstehe ich nicht.

Psychiater: Ein kindisches Spiel, Ihre Krankheit.

Ein Pfleger betritt mit einem Tablett den Raum und fixiert den Patienten am Sessel.

Patient: Ein ungleiches Spiel, nicht wahr?

Der Pfleger flößt dem Patienten nacheinander zwei Pillen ein, er schluckt beide Male nachdrücklich.

Überlegen Sie einmal – wie verrückt wäre ich, diese Pillen freiwillig zu schlucken.

Pfleger: Sie auch, Doktor?

Patient: Lassen Sie ihn, der hat seine Moral.

Psychiater: Mir geht es gut, danke.

Der Pfleger macht den Patienten los, verlässt den Raum. Der Patient zieht eine Pille unter der Zunge hervor.

Patient: Lobotomie oder Vollnarkose – mal sehen, was ich heute erwischt habe.

Betrachtet die Pille – sie ist blau. Er legt sie auf den Tisch.

Patient: Gut, reden Sie weiter.

Psychiater: Mir geht es gut. Nicht? Ich bin durchaus zufrieden. Muss weder morden noch leiden, um durchaus zufrieden zu sein. Es gibt Regeln, wissen Sie – aber das ist der Weg, kein Hindernis. Ich bewege mich, vorwärts, und Regeln glänzen unter meinen Füßen, gleiten an meinen Fingern vorbei. Es ist dunkel, aber ich sehe Licht. Wenn da kein Tunnel ist, wie wollen Sie das Licht erkennen?

Patient: Bedauernswert. Aber lassen Sie sich nur einmauern, mir ist alles recht. Licht, um in Ihren abgeschmackten Bildern zu sprechen. Ich bin dann mal weg, in Ordnung?

Psychiater aufgewühlt: Ich verstehe Sie nicht. Sie sitzen hier als Patient, werden fixiert, müssen Pillen schlucken. Was verleitet Sie dazu, mich zu bedauern?

Der Patient schweigt, setzt ein selbstzufriedenes Lächeln auf.

Psychiater: Wissen Sie was, Ihre mangelnde Kooperationsbereitschaft ist mir sehr zuwider. Sie sitzen hier wie ein römischer Gott, ja, ein verurteilter Psychopath, der seine Hände lustvoll in Schuld wäscht! Das finde ich ekelhaft, außerordentlich unmenschlich.

Der Patient gähnt, seine Augen fallen zu, er nuschelt.

Psychiater: Ja, es beschmutzt mein Gewissen, mit Ihnen einen Raum zu teilen.

Der Patient verstummt.

Psychiater springt auf: Sie krankes Geschwür! Jetzt merze ich Sie aus.

Der Psychiater packt den Patienten am Hals, stürzt in den Sessel. Der Patient hört auf, zu existieren.

Psychiater mit großen Augen: Verdamm mich, jetzt geht’s aber los. Wendet sich zur Decke Schwester, es ist weg! Ich glaube, ich bin geheilt!

Lautsprecher: Das zweite Mal heute. Wie gesagt – morgen wird der Psychiater Ihr Gutachten erneuern. Also, nehmen Sie doch Ihr Schlafmittel, oder wollen Sie die Nacht dort absitzen?

Psychiater: Nein, und dann kommt er noch wieder. Wie verrückt wäre ich denn?

Der Psychiater nimmt, sich wohlig seufzend über den Tisch beugend, eine blaue Pille.