Musik zur Geschichte: Chopin – Ballade Quatrieme (op. 52)
Arc de Triomphe
Als die letzten Klangkaskaden sich in vier krachenden Schlussakkorden entladen haben und das Zimmer in ihrem dunklen Verklingen zurücklassen, ist es Zeit, aufzustehen. Benommen erhebe ich mich und beginne vorwärts zu gehen, dem Knistern nach, das die Leerrille jetzt wie zur Beruhigung einspielt. Sechs Schritte ohne Hindernisse; der Raum ist wie immer derselbe geblieben. Keineswegs hätte ich große Änderungen erwartet – trotzdem ist es ernüchternd, über mir die Anwesenheit derselben Decke, zu meinen Seiten dieselben Wände zu spüren, von denen mein Bewusstsein abprallt. Unter mir den rauen Teppich, der meine Füße vom Boden trennt. Ich taste nach dem Tonarm des Plattenspielers und hebe ihn vom Vinyl, fahre vorsichtig mit der Fingerkuppe unter seiner Nadel vorbei. Aus meinen Papillarleisten weiß der Abnehmer nur wirres Knacken und Rauschen zu lesen, ganz, als würde er an der Oberfläche meiner Gedanken kratzen. Ich lege den Tonarm in seine Halterung und höre zu, wie Stille einkehrt. Den leisen Lärm, der von allen Seiten in das Dunkel des Zimmers eindringt, versuche ich nicht zu beachten. Auf dem Plattenteller liegt eine Ballade für Klavier und wartet darauf, abgenommen zu werden. Unwillkürlich streicht mein Finger ihre gerillte Oberfläche entlang, die feine Spiralprägung nur ein großer Umweg in die Leerrille. Ich kniee mich hin und schiebe die Platte in die dritte Hülse von links. Schwärze wabert durch den Raum, versucht ihn zu überwinden, stößt von den Wänden ab und taucht kühl in meine Augen. Nur im Endlosen könnte sie zur Ruhe kommen. Unwillkürlich richte ich mich auf. Auch im Dunkeln bleibt der Raum berechenbar. Sieben Schritte führen mich zu meiner Jacke. Ich lasse meine Fingernägel über den Stoff kratzen, bis ich zum Reißverschluss gelange. Zahn um Zahn löst er sich aus seiner Selbstumklammerung, bis die Jacke auseinanderfällt und auf meinen Arm landet.
Ich sträube mich, die Türschwelle zu überschreiten. Etwas Schwärze drängt sich übermütig an mir vorbei und sublimiert, sobald sie auf das flimmernde Grau des Ganges trifft. Würde ich die Augen öffnen, würden mich seine Konturen bewusstlos stechen und ins Zimmer zurückwerfen. Ich taste mich durch die dumpfen Stadtgeräusche vorwärts, die den Gang wie Dämmmaterial ausfüllen.
Noch vor dem Mittagslicht fegt ein kühler Wind in die Betonschleuse und treibt Nieselregen wie Eisenspäne in mein Gesicht. Ich spüre, wie sie mich ausrichten, und setze mich in Bewegung. Eine Gruppe von Passanten zieht mich mit sich, ohne mich zu berühren. Sie pulsieren die Straße entlang, ein neuer Fluss über den erstarrten Asphalt. Farben und Formen, die durch meine Lider nur in ein sattes Orange diffundieren, dirigieren sie geräuschlos dem Seitenwind entgegen, der aus den breiteren Straßen um die Ecken fegt. Bald verschmelzen ihre Ziele und sie beschleunigen ihre wie meine Schritte. Ich muss in eine der zwölf Avenuen gekommen sein, die in langen Strahlen aufeinander zulaufen. Die Menschenmenge verdichtet sich zu einem Magnetfeld, das mich an jedem Ort des Gehwegs gleichmäßig vorwärts zieht. Es dauert jedoch nicht lange, bis dieser Fluss an Geschwindigkeit verliert und sich mir in den Weg stellt, um zu bestaunen und zu fotografieren, was die Stadt hier unvermittelt freigibt.
Im Siegestaumel errichtet und ihm gewidmet, ist der Klotz im Zentrum der Avenuen selbst ein Sieg über jeden, der sich ihm nähert. Zu verlockend ist es, sich ihm zu ergeben, der so offensichtlich der Zeit trotzt und sich, seine Erbauer wie Verehrer im Schlepptau, über sie erhebt. Solange man ihren bröckelnden Kalkstein nachputzt, steht die Illusion der selbst geschaffenen Ewigkeit und lässt sich stolz besichtigen. Dazu reichen zwanzig Schritte über die umkreisende Straße. Zu meiner Linken heulen Scheibenbremsen auf; ich nicke ihnen zu, ohne die Augen zu öffnen. Schon klackert mein Bein gegen die Absperrkette auf der anderen Straßenseite. Mit einem hohen Schritt befinde ich mich wieder auf erlaubtem Boden. Ich gehe vorwärts, bis das Orange hinter meinen Lidern sich zu einem matschigen Braun verdunkelt hat, und befinde mich unter dem großen Rundbogen.
Das Schnappen von Auslösern vermischt sich hier mit den gemurmelten Namen toter Generäle. Wer unter dem Bogen vorbeischlendert, bleibt kurz stehen, schaut zur Decke, macht ein Foto, überfliegt die Tafeln mit Gefallenen und schlendert wieder zur Unterführung, seinen andächtigen Blick auf der Rundinsel zurücklassend. Nur, wer sich auf diese Weise abfertigen lassen will, kommt überhaupt hierher, was dem Fluss der Schlendernden einen geregelten Takt gibt. Einige verschwinden zwischen den Zählzeiten durch eine Tür im Kalkstein, um etwas über die kurze Geschichte des Klotzes zu erfahren oder von seinem höchsten Punkt aus auf die Stadt herabzuschauen. Niemand kommt auf die Idee, der Rundung des großen Bogens mit mehr als seinem Kamerasucher zu folgen. Dabei zwingt einen die scharf gemeißelte Kurve geradezu in ihren Verlauf hinein. Zunächst erfasst die Krümmung meine Hände, dann auch meine Füße. Ich spüre kaum, wie ich mich drehe. Der unerbittliche Aufwärtsdrang des Bogens überwindet die Schwerkraft und macht ihn selbst zu ihrem Zentrum. Ich schreite aufmerksam die Rundung entlang, die Namen eroberter Städte unter meinen Füßen. Die Welt dreht sich mit mir, von diesem kolossalen Hufeisenmagneten in eine neue Kreisbahn gezerrt. Und schon bin ich in der Mitte angekommen.
Seltsamerweise herrscht an diesem tiefsten Punkt des Bogens, wo der geballte Triumph menschlichen Erlebens einhellig und einfältig aufjubeln sollte, absolute Stille. Auch der Wind, der trocken an mir vorüberzieht, wagt es nicht, sie anzutasten. Hier kann ich die Augen öffnen. Die ersten Lichtstrahlen, die sie treffen, entzünden das körnige Grau meiner Netzhaut. Sofort beginnen meine Augen zu tränen, aber ich halte sie geöffnet und starre in die Helligkeit, die mein Gehirn mit Farbreizen überlädt. Nach und nach wird sie von scharfen Kanten durchstochen, die mich zusammenzucken lassen. In der weißen Glut liegt eine Ahnung von Musik. Ich horche auf – es ist die Ballade von vorhin. Schnell wird die unbeschwerte Einfalt ihrer Anfangsklänge zur Eintönigkeit, sie scheinen ihr Ziel zu vergessen und drehen sich unschlüssig auf der Stelle. Das Kreisen zieht sich in die Länge bis hin zum Stillstand. Nur ein einziger Ton weiß sich aus der Lähmung zu lösen. Er windet sich schmerzverzerrt durch die Leere in etwas Neues hinein. Mit den ersten Tönen der Melodie, die sich ungläubig in ein Mahlwerk aus zerreißenden Harmoniefolgen hineingleiten sieht, klart mein Blick auf. Vor mir hängt die Stadt und klammert sich an ihre Fundamente. Von oben bis an den Horizont heran und darüber hinaus quillt Hitze zwischen ihren Dächern hervor und tropft in fiebrigen Klängen abwärts, dem Nieselregen entgegen, der darin verdampft und den Asphalt aufquillt.
Das Motiv der Ballade kehrt nach einer scheinbar ausweglosen Stille zurück, bestärkt durch tröpfelnde Untermalungen und grollende Akkorde. Mit jedem Anschlag brechen Häuserblocks aus ihren hohlen Fundamenten, nehmen nach einem Moment der ungläubigen Schwebe Fahrt auf und reißen in ihrem Fall Kabel und Rohre aus den Straßen. Der aufpeitschende Asphalt schleudert Fahrzeuge, Menschen und Trümmer wie Geschosse durch die Luft. Dieser Wirbel aus Formen zerschlägt die Stadt und lässt sie zur Unkenntlichkeit entstellt aus dem Boden stürzen. Nur der Triumphbogen bleibt unverrückbar im Zentrum der Erde stehen, um ganz im Sinne der Erbauer seinen Pyrrhussieg über den Lauf der Dinge zu feiern. Schrill kreischendes Metall, zerschmetternder Beton und Menschen sind ganz still vor den Klängen der Ballade, die jetzt in einem süffisant wiegenden Rhythmus durch gefälligere Harmonien schlendert und sich vom Geschehen nicht weiter beeindruckt zeigt. So unvermittelt, wie es entstanden ist, verliert das Chaos aus meiner Sicht. Nur noch Papierfetzen hängen in der Luft, Zeitungsblätter und Dokumente, die mit der abwärts trillernden Melodie in die Tiefe sinken. Schließlich verschwindet das letzte Blatt ins Ungewisse. Die Ballade findet sanft zu ihrem Anfang zurück. Nur noch der Triumphbogen klebt jetzt an der kahl gefegten Erde über mir, einem grau-braun zerklüfteten Ödland. Eine allzu menschliche Ahnung von Leere drängt sich mir auf. Ich weiß nicht, was jetzt noch geschehen kann. Sollte ich denn? Unvermittelt überwältigt ein fremdes Tosen die Musik und treibt sie in groteske Klangkaskaden, kreuz und quer durch alle Tonhöhen. Ich verliere den Halt und stürze abwärts an den groben, unbehauenen Steinen des Bogens vorbei. Mein Körper trifft weich, aber schmerzhaft auf dem Boden auf. Benommen versuche ich mich hochzustemmen, kann aber kaum den Kopf aus der Erde heben. Die Umgebung brennt mir in den Augen, ein unerträglich helles Krachen aus allen Himmelsrichtungen zwingt mich, sie zu schließen. Im Dunkeln verhallt der Lärm allmählich; ein leises Knistern stellt sich ein. Erschöpft lasse ich den Kopf sacken und sinke wieder in Schwärze.