Sitzfleisch (Kurzgeschichte)

Diese Kurzgeschichte ist in der Anthologie „Writing Teens“ des Kiel&Feder-Verlags erschienen, die es als eBook und Taschenbuch zu kaufen gibt. Sie enthält Geschichten von fünf jungen Autoren, die durch ihre große Bandbreite bestechen.

Sitzfleisch

Schon nach wenigen Schritten zu wissen, dass man die perfekte Zeit für einen Spaziergang im Stadtpark entdeckt hatte – ein gutes Gefühl. Es verlieh dem sonnigen Donnerstagmorgen einen überirdischen Glanz, wenn man um sich blickte, seinen Geist an Morgentau und Strahlenschein ergötzend. Der Mann schaute den totgesagten Park, wie es so schön in diesem Gedicht hieß, das neulich im Outdoor-Magazin abgedruckt war. Zwar war dieser Park nicht totgesagt, aber die Stimmung stimmte – melancholisches Farbenspiel in Blumen und Büchsen erfreute und betrübte gleichermaßen den wachen Blick eines jeden Wanderers und Öko-Menschen. Nostalgisch, nahezu selig erhob der Mann seine Augen gen Himmel, wo Kondore und Schwalben majestätisch ihre Kreise zogen und das innere Auge die Wolkengesichter der Kindheit auf ein Neues vorbeiziehen ließ. Wie erbaulich war doch dieser Spaziergang dem Geist, wie freudlos verklärt dagegen die gewöhnliche Plackerei. Eine hervorragende Idee, dieser freie Tag. Der Mann blickte zu seinem Hund hinüber, der am anderen Ende der Leine auf seine eigene stumpfe Weise die Natur verkannte. Hie und da einen Kollegen erschnüffeln, Duftmarken setzen, ständig vor Herrchens Füßen umhertrotten. Das musste ein Leben sein. Da, nun schoss er wieder zu einem unscheinbaren Grasbüschel, die Leine schnellte klackernd aus ihrem Gehäuse und riss den Mann vorwärts, als sie abgerollt war. Fluchend stolperte er seinem Tier hinterher, brauchte einige Schritte, um wieder Haltung zu finden. Himmel, war so ein Urinfleck wirklich derart interessant? Manisch zerwühlte der Hund mit seiner Schnauze das Grasbüschel und stieß in regelmäßigen Abständen Luft aus. Schnüff, Schnüff, Schnüff, Schnief, Schnüff, Schnüff… ganz wahnsinnig konnte man davon werden. Und jetzt, jetzt begann er auch noch zu sabbern, wie tollwütiges Vieh. Ging es denn noch würdeloser? Hiermit war die Schnüffelzeit für diese Duftmarke beendet. Mit einem kräftigen Ruck an der Leine beförderte der Mann sich selbst in die Flanke des stramm stehenden Tiers, klappte ächzend über dessen Rücken zusammen. Der Hund schnüffelte indes unbeirrt weiter. Eine Maßlosigkeit, dachte der Mann, während er seinen Oberkörper aus dem Fell stemmte. Was dieses Vieh sich erlaubte. „Pfui! Aus! Platz! Komm jetzt!“. Nichts zeigte Wirkung. Erneut zerrte er an der Leine, diesmal mit Bedacht, doch das Tier war einfach nicht zu bewegen. Zum ersten Mal bereute der Mann sein Ressentiment gegen diese winzigen Rattenhunde, die ständig zitterten und kläfften. Die konnte man wenigstens aufheben und in die Tasche stecken. Dieser Hund tat letztendlich, was er wollte. Nun, vielleicht wollte er ja ein Leckerli. Der Mann zog eines aus der Tasche und begann damit vor der Hundeschnauze umherzuwedeln. „Da, schau! Hmm, lecker! Leckerli!“ Auch das ließ den Hund völlig unbewegt. Was nun? Verstohlen spähte der Mann um sich, glücklicherweise schien niemand seiner unangenehmen Situation gewahr. Eine ältere Dame, die auf ihren Stock gebückt in ein Blumenbeet starrte, war neben ihm das einzige menschliche Element in diesem Park. Hätten nicht vereinzelt Vögel gezwitschert, man hätte sich gefragt, wo hier das Leben geblieben war. Nicht einmal das Farbenspiel der Blumen war mehr recht anregend. Auch der Himmel schien in seinem wolkenlosen Blau irgendwie ausgebleicht. Mit einem gequälten Seufzer ließ der Mann sich in die Wiese sinken – was nun? Seine Hände wanderten ziellos über das Gras, die gespannten Beine ragten auf den Kiesweg. Nun blieb eigentlich nur das Warten. Mit einem passiv-aggressiven Blick auf seinen sabbernden Kumpanen schloss der Mann die Augen. Wenigstens war dies ein freier Tag, da konnte das Mistvieh ihm keine wichtige Zeit rauben. Ja, wenn so ein Tag sich schon für einen Spaziergang im Park eignete, dann kam er sicherlich auch für das Herumsitzen im Park in Frage. Mit ein paar erlesenen Gedanken im Kopf ließ es sich hier schon aushalten. Der Mann holte einige Male bewusst Luft, lockerte seine Beine ein wenig und spürte, wie seine Spaziergangsruhe zurückzukehren begann. Doch als witterte der Hund die wiedergefundene Entspannung seines Herrchens, erklärte er eben in diesem Moment seine Untersuchungen für beendet. Ein aufdringliches Zerren an der Leine bedeutete dem Mann, weiterzugehen, bald wich es feuchten Stupsern der Schnauze, dann begann der Hund noch, seine Hände abzuschlecken. Aber das ließ den Mann nun völlig unbewegt – sollte das Vieh doch sehen, was es mit einem unwilligen Subjekt am anderen Ende der Leine anfing.

„Kann man Ihnen helfen? Was tun Sie denn da?“

Der Mann öffnete das linke Auge ein wenig, von der Störung ein wenig überrascht. Ein mittelkleiner Herr, an die vierzig, der sich vor ihm aufgebaut hatte und mild irritiert den Kopf hängen ließ. „Nein. Ich sitze.“ Der Herr schien zu einer pampigen Antwort ansetzen zu wollen, besann sich aber offenbar eines Besseren – gut so. „Aha.“ Er setzte einen unsicheren Schritt zurück, runzelte die Augenbrauen. Dann fiel es ihm ein, den Mund zu schließen, und er entfernte sich in bedächtigem Gang. Der Mann verkniff sich ein schwaches Lächeln und schloss die Augen. Auch der Hund ließ nun, wahrscheinlich durch den Fremden verunsichert, die närrischen Drangsalierungen sein und legte sich unter halb gekränktem, halb wohligen Gegrummel auf dem Gras nieder. Dass man beim Nichtstun noch Vitamin D bildete – zwar wusste der Mann nicht, wie er gerade darauf kam, aber der Gedanke bereitete ihm Freude. Vitamin D, das Supervitamin…

„Hallo, kann man Ihnen helfen? Was machen Sie denn da?“ Ein junger Mann diesmal, steifes Hemd, steifes Gesicht, ein Geschäfts-Typ wohl. Mit einem dämlich angestrengten Grinsen hatte er den Mann fixiert. „Ich sitze.“ Weiterhin Grinsen, das ausdruckslose Starren bereitete dem Mann fast Schmerzen. Wie hielt man das aus? Er musste wohl etwas entgegnen – „ … und was machen Sie hier so?“ Als hätte der Typ zum ersten Mal seine Umgebung registriert, schaute er sich verwundert um. Die Blumen, der Himmel, der Hund, der Mann. Jetzt weiteten sich seine Augen noch, war das anatomisch überhaupt möglich? „Mann, ich verstehe! Ich verstehe…“ Er ließ sich neben dem Mann ins Gras sinken. Großartig. „Ich verstehe. Ist schon ok für Sie, oder?“ Seufzen ? Antworten? Beides? „Hm, ist schließlich ein freies Land.“ Solange der Typ die Klappe hielt, würde er nur einen aufdringlichen Duft und Körperwärme verströmen – das ließ sich noch ertragen.

Natürlich hielt er nicht die Klappe. „Ach, wissen Sie… stressiger Tag, Alltagshetze, Public Relations Manager bei soundso, verdiene dasunddas, ja, schon gut, aber eben inhaltsleer… dieser Moment… Leben… Meeting sausen lassen… Schauen Sie nur, diese Wolke!“ Ein unförmiges Gebilde, das genauso gut Gesicht wie Germknödel sein konnte. Oder meinte er den walfischartigen Bausch daneben? Ach, es war doch egal. Der Mann schwieg und versuchte telepathisch, auch den Typen dazu zu bringen. Dem schien die Stille jedoch unangenehm zu sein. „…Ah, natürlich. Ich Trottel. Ist für mich nicht leicht, so von hundert auf null abzuschalten, wissen Sie.“ Das merkte man ihm an. Nun schien er wenigstens schon auf fünfzig heruntergefahren zu sein, denn er schaffte es, die Augen zu schließen. Eine Weile schaute ihm der Mann bei seinen mühevollen Gesichtsverrenkungen zu, dann ließ er seinen Blick den Weg entlang wandern. Außer einem heranschlurfenden Jugendlichen keine Seele zu verkennen. Gelassen widmete der Mann sich der Betrachtung eines Grasbüschels neben seinem linken Fuß. Schon verständlich, dass so ein Hund davon angetan war. Vor allem die Stabilität der dünnen Halme verblüffte einen. Man konnte sie bis zum Boden biegen, sogar plattdrücken, und sie richteten sich mühelos wieder auf, während aber der leiseste Windhauch sie schon wogen ließ. Der Jugendliche war stehen geblieben und beäugte den Mann befremdet bis belustigt, aber nur so lange, bis ein freundlicher Blick ihn schnell wegschauen ließ. Er ließ sich demonstrativ desinteressiert auf der Parkbank am Wegrand nieder, wühlte ein wenig in seinem Rucksack herum. In dem Sekundenbruchteil, in dem der Mann noch einmal sein Grasbüschel betrachtete, riss er eine Miniaturkamera aus der Tasche, klatschte sie auf die Bank und schob hastig eine Hand vor ihr rot blinkendes Aufnahmelicht. Mit der anderen fischte er sein Smartphone aus der Hosentasche und war, sobald der Mann wieder hinüberschaute, tief in irgendwelche digitalen Inhalte versunken. Wofür er wohl eine solche Aufnahme brauchte? Ein gewisser komischer Effekt war natürlich nicht zu leugnen, wenn man sich den verbissen entspannenden Beisitz des Mannes ansah – vielleicht würde der Jugendliche sein Video in einem sozialen Netzwerk hochladen, um ein paar Lacher abzugreifen. Nun, sollte er doch. Der Mann grinste einmal demonstrativ in die Kameralinse und schloss dann die Augen. Etwa drei Minuten hielt der Jugendliche das Stillsitzen aus, dann packte er unter leisem Rascheln die Kamera zurück. Mit einem leisen „Nice“ und knirschendem Schritt ließ er seine Subjekte zurück. Wiederum kehrte Stille im Park ein, doch erneut währte sie nicht lang. Ein heulender Piepston ließ den Public Relations Manager einen Moment hochfahren und panisch an seiner Armbanduhr fummeln. Der Signalton wich einigen leiseren Piepsern, und schließlich wandte der Typ sich entschuldigend dem Mann zu: „Das Stundensignal – man kommt einfach nicht zur Ruhe, was? Ich habe es gleich mal abgeschaltet, unerhört eigentlich, dass die Hersteller so etwas standardmäßig aktivieren… aber jetzt ist Ruhe, das verspreche ich. Elf Uhr übrigens – sollten Sie heute noch etwas vorhaben…“

Elf Uhr. Der Mann hatte natürlich nichts mehr vor, bis auf ein entspanntes Mittagessen zuhause. Aber das eilte nicht. Anders dachten darüber wohl die Kinder, die jetzt in immer größerer Zahl den Weg entlangkamen. Manche blieben nur kurz stehen, um die Herumsitzenden zu mustern, andere verlangsamten ihren Gang bis zum Schneckentempo und glotzten dabei abwechselnd Hund, Mann und Typ an. Letzterer blickte vorwurfsvoll zurück, sodass die meisten Kinder sich schnell davonmachten. Nur ein besonders mutiges wagte es, sich ein Stück dem Hund zu nähern. Es streckte die Hand aus und beugte sich vorüber, wobei ihm die Schultasche ein Stück über den Kopf rutschte. Der Hund ließ die tätschelnde Aufmerksamkeit wohlwollend über sich ergehen. Nun, da eines den Anfang gemacht hatte, trauten sich noch mehr Kinder heran, begannen auch zu sprechen. „So ein süßer Hund, streichel den mal, die fressen uns schon nicht, der schaut aber böse, keine Fremden ansehen, Mama meint, die entführen dich sonst, …“ Das Stimmengewirr schien den Typen sehr zu ärgern, er sprang irgendwann richtiggehend aggressiv auf und rief: „Schert euch weg, hier wird Mindfulness betrieben!“ Die Jüngeren ließen verschreckt vom Hund ab und begannen wegzulaufen, einige ältere Schüler wichen vorsichtig zurück, die Smartphones langsam in ihre Taschen zurückschiebend. Der Schülerstrom dünnte allmählich wieder aus. Als die letzten Kinder vorbeigetrottet waren, schloss der Mann wieder die Augen. Dass diese Schüler schon so früh nach Hause durften…wahrscheinlich war ihre letzte Stunde ausgefallen.

„Kein Wort – Sie scheinen das wirklich zu beherrschen. Sagen Sie, haben Sie das mit einer App trainiert oder so? Hab‘ schon einige probiert, alles Mist…“.
Kein Wort.
„… Na gut, ich verstehe schon. Tut mir Leid. Sie sind wohl eine Art Mindfulness-Meister, haben ja auch schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel.“ Dem Mann entwich ein leises Seufzen, als er kurz zu seinem Kollegen hinüberschielte. Vielleicht lag es tatsächlich am Alter, und dieser Typ tat eigentlich nicht gut daran, seine Energie hier in angestrengtes Nichts verpuffen zu lassen. Sollte der doch in sein Meeting gehen und dort irgendetwas deklamieren. Jetzt hatte er sich tatsächlich in den Lotussitz begeben, oder jedenfalls in etwas Ähnliches, das die Schmerzen erträglich halten musste. Sein Gesichtsausdruck ließ den Mann schmunzeln. Er streichelte ein wenig seinen Hund. Auch der war ja schon älter, kam mit der Ruhe besser klar als aufstrebende Public Relations Manager. Eine näselnde Stimme, die sich schnell näherte, holte den Mann aus seinen Gedanken. „Ich fass‘ es nicht! Da – die Mindfulness-Typen! Gebt euch das, Mann.“ Ein junger Erwachsener stolzierte heran, die eine Hand auf den Mann, die andere mit Smartphone auf sein Gesicht gerichtet. „Hab‘ ich grade erst auf YouTube gesehen. Leute, das ist exklusiver Content hier bei mir. Wartet, ich probier‘ mal was. Prank der Woche, ich schwöre. Macht euch gefasst!“ Auch der Typ hatte die aufdringliche Person inzwischen registriert, er zischte: „Diese Idioten. Ich könnte mich so ärgern! Haben einfach keine Ahnung, was sich ziemt.“ Der Mann schwieg und schloss die Augen. Mit einer ungeheuren Konzentrationsleistung schaffte es der Typ ebenfalls, die Augen wieder zusammenzupressen und tief durchzuschnaufen. Selbst ein plötzliches Furzgeräusch am Ohr des Mannes ließ ihn nicht aufschrecken. Der Mann rümpfte irritiert die Nase. Was sollte das? Schon ertönte ein zweites. Nur nicht reagieren. Der Typ räusperte sich. „Entschuldigen Sie… machen Sie das absichtlich? Ich will wirklich nicht Ihre Achtsamkeit stören, aber mich bringt das ziemlich aus dem Gleichgewicht.“ Ein leises Kichern, dann eine dritte Blähung. Jetzt öffnete der Mann die Augen. Der Typ war bereits aufgesprungen, seine wutverzerrte Grimasse ein schrecklicher Anblick. Er schrie: „Verpiss dich, hau ab, du rotziger Taugenichts!“ Der Mann fuhr herum, dort sprang prustend der junge Erwachsene auf, schob ein zweites Smartphone zurück in seine Tasche und rannte davon, rief dabei einige Male „Oooh!“ in seine Linse und schüttelte seltsam mit der Hand. Kopfschüttelnd wandte sich der Mann wieder dem Typen zu, der sich mit finsterer Miene ins Gras zurück sacken ließ. „Wenn Sie nicht wären… ich hätte komplett am Rad gedreht. Was für ein Schwachmat mit seiner dämlichen App! Wie kommt so einer auf solchen Mist? Ach, ich muss mich wohl noch besser konzentrieren.“



Da half der Mitte Dreißigjährige, der sich nun näherte und die beiden grüßen wollte, nicht wirklich. Der Typ fuhr ihn an: „Schh! Hergott, wir wollen uns konzentrieren.“ Mit einer entschuldigenden Geste begann der Neuankömmling zu sprechen. „Lassen Sie mich nur kurz erklären. Mein Sohn hat Sie beide vor zwanzig Minuten oder so gefilmt und das Video ins Netz gestellt – ich wollte nur kurz vorbeikommen und mich dafür entschuldigen“. Mit einem Blick auf den Mann fügte er hinzu: „Aber Sie scheinen das sowieso ganz gelassen zu nehmen.“ Der Typ zuckte anerkennend mit den Schultern. „Erstaunlich, nicht! Diese unfassbare Awareness.“ Der Dreißigjährige redete weiter, immer noch an den Mann gerichtet: „Ich weiß gar nicht, wieso mein Sohn das so lustig fand. Ehrlich gesagt könnten wir alle ein wenig mehr… Achtsamkeit brauchen“. Mit diesen Worten wollte er sich neben dem Mann niederlassen, zögerte dann aber und setzte sich doch neben den Typen. „Wenn Sie entschuldigen, ich teile das mal eben“. Er zückte ein Handy und nahm ein Gruppenbild auf. „Selfie“ nannte man das heutzutage, glaubte der Mann. Tippen und Nuscheln: „Einfach mal… nichts… tun… gegen den Alltag, gegen… Hetze… so. Geteilt.“ Die finstere Laune des PR-Managers schien verflogen, er merkte freundlich an: „Sehe ich auch so. Da können so viele Leute blöd schauen, wie sie wollen – diese Ruhe findet man kaum wo“. Der Dreißigjährige hatte jedoch bereits die Augen geschlossen und ebenfalls den Lotussitz eingenommen – erstaunlich präzise. Der Typ schaute indes gelassen umher, zum ersten Mal schienen seine Gesichtszüge entspannt. „Hallo, Sie da!“, rief er einer vorbeistiefelnden Frau zu. „Sie sehen gestresst aus. Wie wär’s mit ein wenig Mindfulness?“. Die Dame wandte einen Moment irritiert das Gesicht vom Telefon ab, ging dann aber schnell weiter. Der Mann hörte ihre Worte verfliegen: „Entschuldige, gestört, drei Männer meditieren – Youtube-Hit? Bin gleich zurück!“

Und schon war sie wieder da. Der Typ begrüßte sie, über seinen Erfolg hocherfreut: „Na, umentschieden?“ Die Frau stellte sich als „Freymuth“ vor, „vom regionalen Nachrichtenportal. Sie sind das ‚Mindfulness‘-Kollektiv?“
„Jawohl, so könnte man es nennen. Unsere Methode findet wohl Beachtung?“
„Beachtung? Sie – und…“ – die Frau warf einen kurzen Blick auf die Männer, die den Typen meditierend umrahmten – „… und Ihre Kollegen hier, Sie sind YouTube-Stars, wenn man so sagen darf. Sagen Sie, würden Sie Ihre Meditation kurz für ein Interview unterbrechen?“
„Aber mit Vergnügen, gnädige Frau. Unsere Message gehört gehört, wenn Sie verstehen“. Er schien ganz begeistert ob dieses einfallsreichen Wortspiels. Der Mann atmete amüsiert auf. Frau Freymuth hatte immer noch das Telefon am Ohr, in das sie jetzt sprach. „Ja, einer will, schickt mir Phil. Wird netter Video-Content für alle Altersgruppen…“. Sie wandte sich wieder dem Typen zu. „Wir können gleich loslegen. Überlegen Sie sich am besten schon mal was Geistreiches.“ Eifrig zog der Typ daraufhin einen Notizblock aus der Hemdtasche, starrte die nächsten Minuten gedankenverloren in die Ferne. Nicht einmal, dass er keinen Stift in der Hand hatte, bemerkte er. Die Reporterin tippte ein wenig auf ihrem Telefon herum, bis ihr auch der Hund ins Auge fiel. „Oh, der ist ja süß! Ja, komm her!“ Der Hund, der sich bisher auf der Wiese gefläzt hatte, hob fragend den Kopf und schickte sich alsbald, aufzustehen. „Halt, nicht!“, warf der Typ ein. „Der untersteht dem Meister.“
„Na gut“, entgegnete Frau Freymuth. „Herr Meister… dürfte ich Ihren Hund streicheln?“ Der Mann zuckte abwesend mit den Schultern. Die Frau sah fragend zum PR-Manager hinüber und begann vorsichtig den Hund zu kraulen, als er feierlich genickt hatte. Das Tier genoss die Aufmerksamkeit und räkelte sich zufrieden im Gras. Schon bald kamen zwei Männer angetrabt, einer davon mit wuchtiger Filmkamera bepackt. Sie begannen sogleich, ihre Apparatur aufzubauen, einer rollte das Mikrofonkabel aus und drückte der Reporterin das Gerät in die Hand. Von der kostspieligen Konstruktion angezogen, näherten sich die ersten Schaulustigen, vornehmlich ältere Menschen mit Gehstöcken und Brottüten. Einer der Kameramänner baute sich vor ihnen auf und wedelte ein wenig mit den Armen: „Bitte, wahren Sie Abstand, hier wird gedreht.“
„Was denn?“
„… weiß ich, ehrlich gesagt, nicht… Drei Männer sitzen hier im Gras, wahrscheinlich Protest oder so.“ Jetzt räusperte sich der Typ. Eilig wurde die Kamera auf ihn gerichtet, und er ließ vernehmen: „Sie haben Recht, das ist Widerstand.“ Frau Freymuth fuchtelte mit dem Mikrofon in seine Richtung. „Bitte, warten Sie, bis ich die Frage stelle. Aber, Phil, schneiden Sie den Widerstand irgendwo rein, ja?“ Mit einem professionellen Nicken entgegnete der filmende Kameramann: „Wird gemacht“. Die Reporterin strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und schaute kurz in die Kamera, dann zum Typen. „Also. Herr…“
„Bernach. Jörg Bernach.“
„Herr Bernach. Sie meditieren hier seit geraumer Zeit… was bringt Sie und Ihre Kollegen dazu, hier im Stadtpark ein so deutliches Zeichen zu setzen?“ Der Typ, Herr Bernach, holte mit gewichtiger Miene Luft. Er begann, in die Kamera zu deklamieren: „Das Mindfulness-Kollektiv hat sich dem Kampf gegen die Schnellebigkeit unserer Zeit verschrieben. Alles immer schneller müssen, kürzere Deadlines im Job, hupende Autos im Verkehr, der Wecker zuhause… das ASAP hat unsere Gedanken übernommen, unsere Gehirne gedrillt. Wir fordern nun unsere Aufmerksamkeit zurück, wir“ – er erhob sich und deutete in den milchigen Himmel – „wir füllen die Leere des modernen Alltags“. Mit einer einladenden Geste ließ er sich wieder sinken. „Wer uns folgen will, der komme hierher und eröffne die nächste Reihe“. Tatsächlich näherten sich vorsichtig einige Schaulustige, von den großen Worten sichtlich beeindruckt, und ließen sich zögernd nieder. Freymuth klatschte begeistert in die Hände – „Gut gesagt, großartig!“ – und wandte sich zur Kamera. „Und so widersetzt sich das Mindfulness-Kollektiv den Zwängen unserer Zeit, wird der entspannte Sand im Getriebe unserer Gesellschaft. Schauen Sie unbedingt später nochmal vorbei, wir halten Sie auf dem Laufenden“. Zum Kameramann meinte sie: „Gut, jetzt bitte noch ein paar Minuten Meditation.“

Die Truppe stand einige Minuten still, der Mann öffnete leicht ein Auge, um sich umzusehen. Die meisten Schaulustigen entfernten sich wieder, nur die Sitzenden blieben unbeweglich, wahrscheinlich, weil sie gefilmt wurden. Am ruhigsten war neben ihm selbst wohl der Kameramann, an dem sich kein Muskel regte. Das musste das jahrelange Filmen machen, der Kampf um unverwackelte Aufnahmen. Die Versammlung kam einer Gedenkveranstaltung gleich, man scharrte wartend mit den Füßen, fuhr mit den Fingern durchs Gras. Der Typ versuchte jetzt, sein entspanntes Lächeln von vorhin zu kopieren, brachte aber nur ein selbstgefälliges Grinsen zustande. Vom Dreißigjährigen hatte der Mann seit seiner Ankunft nichts mehr vernommen – er saß immer noch da, die Knie beeindruckend nah am Boden. War er womöglich eingeschlafen? Wenn man genau hinsah, schien er leicht vorüber zu hängen, sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Fasziniert schaute der Mann eine Weile zu, dann stupste ihn eine Hundeschnauze an. Das Tier fuhr unruhig mit dem Kopf herum, vielleicht wurden ihm die Menschen langsam zu viel. Der Mann griff in seine Tasche und gab dem Hund ein Leckerli. „Ja, bist ein ganz Feiner!“ Frau Freymuth, die ihren Kopf bisher in das Telefon versenkt hatte, fuhr hoch und starrte ihn einen Moment befremdet an. Dann weitete sich ihr zusammengepresster Mund zu einem Lächeln. „Oh, ist Ihre Sitzung beendet? Herr Meister, was geht Ihnen nun durch den Kopf?“ Ablehnend schob der Mann das Mikrofon vor seinem Gesicht weg. Der Typ hatte die Störung bereits bemerkt, er begann wild in Richtung der Reporterin zu gestikulieren. „Nein, lassen Sie den Mann in Frieden! Ich rede gerne weiter, aber lassen Sie den Mann. Ich spüre es, er ist uns geistig voraus. Lassen Sie ihn.“ Freymuth schien ob der Zurückweisung ein wenig gekränkt, bedachte sie den Typen doch mit einem vorwurfsvollen Blick. „Danke, Ihr Beitrag war schon gut genug“. Sie wandte sich dem Dreißigjährigen zu. „Ich werde lieber Ihren Kollegen hier – wie heißt er denn?“ Der Typ schubste seinen Nachbarn einmal kräftig an der Schulter, was diesen aber völlig unbeeindruckt ließ. Nach einigen weiteren Versuchen, bei denen er selbst aus dem Gleichgewicht seines Lotussitzes zu geraten drohte, hob der Typ entschuldigend die Hand und verpasste dem Schlafenden einen Klaps auf den Hinterkopf. „Hey, Mann. Werd‘ mal wach. Wir müssen ein Zeichen setzen.“ Daraufhin schreckte der Dreißigjährige hoch, keuchte nach Luft, blickte eine Weile desorientiert um sich. Als er schließlich instinktiv sein Smartphone zückte und auf den Bildschirm sah, ließ ihn der Anblick ein zweites Mal aufschnappen. „Ach du heilige… fünf vor zwölf? Ich wollte doch nur ein bisschen…“ Derart stammelnd sprang er auf. Der Mann folgte verwundert seinen überschwänglichen Gesten. „Machen Sie’s gut, danke für die Inspiration, muss mich jetzt aber beeilen…“ Und schon war er in der Menschenmenge verschwunden, die sich jetzt wieder dichter um das Plätzchen Gras drängelte. War diese Sache denn wirklich so interessant? Oder taten es die Leute mit ihren Handykameras nur dem teuren Exemplar vom Nachrichtenportal gleich, in der Hoffnung auf ein paar Likes? Dem Mann war es ja egal, aber die sollten sich doch bitte ein anderes Motiv suchen und ihm seine Ruhe gewähren. Als er müßig den Blick hob, schmunzelte ihm der Kameramann halb empathisch, halb desinteressiert zu. „Schätze, ihr braucht ‘nen neuen Guru…“ Sofort fuhr der Typ ihn an: „Ach, was verstehen Sie denn schon?“ Der Kameramann drehte langsam den Kopf, ohne seinen Gesichtsausdruck zu ändern. Es entspann sich ein bitteres Blickduell zwischen den beiden, das der Typ nach zwei Sekunden aufgab, indem er sein Smartphone zückte. „Ich hab‘ eine Idee, Mann.“ Er tippte und wischte angeregt auf dem Display herum, nuschelte dabei: „Burnout… Stress… entfliehen… Park… Zeichen. So!“ Selbstzufrieden hob er den Blick. „Ich habe eine Facebook-Veranstaltung erstellt. Eine Demonstration gegen den Alltagswahnsinn! Warten Sie nur, bei meiner Reichweite ist hier gleich mächtig was los.“

Der Mann nahm sich vor, in Kürze nach Hause zu gehen. Auf noch mehr Gaffer und nervtötende Pseudomeditanten wollte er gerne verzichten. Ach, was bildete sich dieser Typ eigentlich ein? Erhob mit seiner lächerlichen Frustration Anspruch auf die Barmherzigkeit im Park sitzender Männer. Sollte der seine Facebook-Freunde doch über Mindfulness vollabern, aber bitte nicht auf Kosten der Ruhe Unbeteiligter. „Sagen Sie“ – der Typ horchte auf und starrte den Mann mit halb offenem Mund grinsend an – „wollen Sie ihre Sitzung nicht alleine abhalten? Mein Mittagessen ruft, und ehrlich gesagt geht mir dieser ganze Achtsamkeits-Kram auf die Nerven.“ Das Gesicht des Typen durchwanderte einige höchst befremdliche Grimassen, bevor er die Aussage vollständig erfasst hatte. Letztendlich entschieden seine Gesichtsmuskeln sich für Empörung. „Aber… wir warten doch noch. Auf Erleuchtung. Wie stünde ich denn jetzt da… Viele Menschen trachten nach Ihrem Grad der Entspannung. Sie können noch nicht gehen! Die Leute, die gleich kommen, die zählen auf Sie.“
„Ich kann mich nicht erinnern, irgendjemandem einen Meditationskurs zugesichert zu haben. Und die meisten Leute, die hier stehen und sitzen, nerven mich in höchstem Maße an. Sie verdecken mir sogar die Sonne, sehen Sie?“ Der Mann zeigte auf die entsprechenden Menschen, welche sogleich aufmerkten und noch näher kamen. „Ich will doch nur meine Ruhe, Herrgott. Was soll das alles hier eigentlich?“
„Was das soll, fragt er…“. Jetzt schien der Typ ernstlich beleidigt. Er schloss die Augen und atmete einmal demonstrativ durch. „Also. Es ist ja gleich Mittagspause, hier treffen in Kürze mindestens fünfzig Menschen ein, die sich ein, zwei inspirierende Worte von Ihnen erhoffen. Wollen Sie ihnen nicht diesen einen Gefallen tun? Wer sonst, wenn nicht Sie, sollte ein wenig Ruhe in ihr Leben bringen können?“
„Na, jetzt warten Sie mal. Sie sind es doch, der hier pausenlos von Mindfulness schwafelt. Wenn es Leute gibt, die das tatsächlich interessiert, dann reden Sie doch mit denen. Mein Ruhestündchen im Park ist längst beendet.“ Der Mann schaute sich nach seinem Hund um. Der war bereits aufgestanden und drehte unruhige Kreise, während immer wieder Hände nach seinem Rücken grapschten. Fünfzig Leute sollten noch kommen? Ein Tropfen auf dem heißen Stein, es waren ja schon mindestens doppelt so viele anwesend. Hier hatte der Typ sein großes Publikum, sollte er das doch nerven. Wie man wohl am besten durch eine solche Menschenmenge kam? Gedankenverloren fuhr der Mann mit einer Hand in seine Jackentasche.
„Ich verstehe nicht, wirklich. Das ist Ihre Gelegenheit, den Menschen etwas Gutes zu tun, ihnen einen Lichtblick im grauen Alltag zu gewähren… wie können Sie da auf die Idee kommen? Bitte, erklären Sie doch, was das soll, so plötzlich?“
„Hier, such!“. Ein ungeschickter Wurf beförderte das Leckerli über die Köpfe der Menschen, dorthin, wo der Mann den Beginn der Masse vermutete. Freudig wedelte der Hund mit dem Schwanz, begann zu schnüffeln, die Leute um ihn herum wichen ganz verzückt zurück. Schon war eine Gasse entstanden, um dem Tier zum Leckerbissen zu verhelfen. Patschende und tätschelnde Hände streckten sich entlang des Weges nach ihm aus. Der Mann gähnte und genoss für einen Moment die Sonnenstrahlen, die nun wieder auf sein Gesicht fielen. Abwesend nahm er wahr, wie der Kameramann im Entengang zu der entstandenen Gasse watschelte, sein Gerät auf die Schulter geladen. Recht so, viel Interessanteres als den Hund gab es hier gerade sowieso nicht. Auch die Reporterin verbarg ihre Langeweile nicht länger, hielt mit gleichgültiger Miene das Mikrofon einigen Schaulustigen unter die Nase, während sie unentwegt auf ihr Smartphone tippte. Erschöpft schloss der Mann die Augen. Was für ein großer Schwachsinn. Und immerzu diese Smartphones, die klickten und blitzten. Wahrscheinlich wussten die Leute am Rand des Auflaufs nicht einmal, was in der Mitte eigentlich los war. Und trotzdem hoben sie ihre Kameras an Plastikstäben in die Höhe, um es auch filmen und veröffentlichen zu können. Der Lärm… Stilles Tuscheln und unbedachtes Auflachen erfüllte die Luft, ließ sie erzittern. Schwälle von Geräuschen, die sich ins Zentrum der Masse ergossen, wo er saß und doch eigentlich nur seine Ruhe haben wollte. Die Luft verdickte sich hier in den Schwingungen, kristallisierte in rhythmischen Wogen aus. Sie war kaum noch zu atmen, setzte sich in der Luftröhre ab und goss einen aus. Der Mann konnte sich gar nicht mehr bewegen, nur sein Bewusstsein kämpfte sich durch die zähe Masse aufwärts, wo der Lärm ausflockte und fett wurde. Dicke Gallertmasse hatte sich über der Versammlung angelagert, sie waberte und verzerrte die Leute zu einem transparenten Etwas, ließ sie aufschwellen und verfließen. Unerbittlich dröhnte Geraschel und Getuschel nach außen, durchschoss die Masse in Strahlen, die sich in den Himmel fortpflanzten, zurückgeworfen wurden, überall niederprasselten. Schon türmten sich die aufeinanderklatschenden Eindrücke haushoch auf, saugten sich voll, schwollen zu wabbelnden Ballons auf, die sich über den Boden ausbreiteten, aufgeblasen und nichts. Wo sollte das enden? Ein Schatten, der über seine Lider fuhr, ließ den Mann plötzlich aufschrecken. Der Lärm war abgeflaut, verdrängt von einer Art Unbehagen, das sich über die Umstehenden gelegt hatte. Der Mann schaute auf, einem Polizisten direkt in die Augen, der sich ihm mit ernstem Blick entgegenbeugte. Verwirrt rieb er sich die Lider.

„Guten Tag. Sie können diese Beisammenkunft hoffentlich erklären?“
Der Typ hatte die ganze Zeit händeringend dagesessen, schob jetzt schützend die Arme vor den Mann, rief: „Nein, warten Sie, das ist ein Missverständnis!“. Der Polizist sah ihn an, verstand ihn wohl tatsächlich nicht, denn er meinte: „Das ist eine unangemeldete Beisammenkunft“, und wandte sich wieder zum Mann. „Also?“

„Wissen Sie was? Ich gehe jetzt. Dieser ganze Tumult ist mir wirklich zu viel“. Wo war sein Hund? Der Mann erhob sich langsam, seine Glieder waren ganz steif. „Komm! Komm her, Bernhard! Herrchen hat Leckerli!“
„Sie gehen nirgendwohin, bevor diese Sache nicht geklärt ist. Ist Ihnen klar, wie viele Sicherheitskräfte hier offiziell sein müssten?“
Die Menschen hatten um seinen Hund einen Kreis gebildet, die Gasse war verschlossen. Ein Jaulen ließ den Mann zusammenfahren. „Lassen Sie mich durch!“ Womöglich war jemand über das Tier geschubst worden.
„Sie bleiben hier. Ich muss Sie befragen.“ Der Mann schob den Agenten entschlossen zur Seite, stürzte sich gegen die Wand aus Menschen. Die nahm ihn auf, aber sie ließ ihn keinen Zentimeter vorwärts kommen. Fragen umschallten ihn, Blitzlicht, Menschen drückten ihre Gesichter an seines und zogen Grimassen. Eine Hand fuhr an seine Schulter, packte ihn und zerrte ihn zurück, aber er riss sich los, kämpfte sich weiter. Irgendwo hinter ihm näselte der Typ mit panischem Unterton: „Beruhigt euch doch, allesamt!“ Da war der Kameramann, er drehte sich langsam im Kreis, die Kamera hoch gehalten und abwärts gerichtet, hochkonzentriert und bedacht darauf, ja nicht umgestoßen zu werden. Hinter ihm drückte sich Frau Freymuth gegen die Masse, keuchte ins Mikrofon und in das Smartphone, das ihr zwischen Ohr und Schulter klemmte: „Wir sind live dabei, ja, die Situation eskaliert, meine Damen und Herren… nein, ich bleibe, stellen Sie sich vor… die Aufrufe!“
„Bernard! Ihr kranken Idioten, lasst meinen Hund!“. Dort war er, stand auf einem strampelnden Mann und knurrte, die Leute versuchten ihn zu packen, aber er biss und bellte ihre Hände und Smartphones an. Jetzt hatten sie ihn, nahmen ihn von vorne und hinten, drückten ihn zu Boden, während der Mann sich ächzend wegrollte, der Mann auf das Tier zustürzte und alles beiseiteschob, sie begruben ihn, stolperten, das Tier winselte! „Lasst meinen Hund!“ Noch mehr Hände, eine, zwei, drückten seine Arme auf den Rücken und klickten, er wurde an der Schulter rückwärts gezerrt, strampelte mit den Beinen, aber fiel dabei nur auf die Knie und wurde mit dem Gesicht in den Boden gedrückt. Tottrampelnde Füße schoben sich beiseite und ließen ihm endlich Raum, zu atmen.

„Widersetzen Sie sich nicht weiter. Wir klären das auf dem Revier. Hier wird es zu unberechenbar.“ Dazu schallte irgendwo von draußen ein Megafon: „Bürgerinnen und Bürger, diese Versammlung ist aufgelöst. Begeben Sie sich langsam und geordnet zu den“ – ein lauter Schrei drang an das rechte Ohr des Mannes, er begann zu zittern, der Polizist zog ihn vorsichtig zurück auf die Knie, hielt gestikulierende Menschen auf Abstand – „der Registrierung können Sie gehen. Verweigerung der Kooperation kann gerichtliche“ – ein Ruf schälte sich aus dem allgemeinen Trubel: „Ruhe und Frieden!“ riefen sie und kamen wieder näher. Der Polizist geriet in Bedrängnis. Der Mann kam endlich wieder auf die Beine, er half dem Agenten, die Menschen wegzudrücken, aber ihn ergriffen sie und zogen ihn unter sich, er sah nur noch Haut und Schuhe. „Das soll Demokratie sein!“ schrien irgendwelche Idioten und die Rangelnden stürzten über ihm zusammen, unter ihnen der Polizist. „Nieder mit dem Unrecht! Für die innere Freiheit!“, und sie begannen zu schlagen, es wurden immer mehr zuckende Füße und Beine. Der Mann wollte den Kopf in den Armen vergraben, es ging nicht wegen Metall, das rasselte, wann immer er panisch die Hände auseinander riss – und schon trafen sie seine Nase, heißer Schmerz durchtränkte die Atemluft, ließ ihn keuchen. Er schrie, wie alle anderen eben, nur sein Hund, der jaulte. Er musste dorthin, aber seine Schläfen knallten gegen Sohlen, diese Demonstranten mit ihrem festen Schuhwerk aber auch. Der Mann seufzte. Sehen konnte er schon nichts mehr, warum wollte der Lärm nicht enden? Wie seine Beine zuckten. Als ob es da etwas zu zucken gäbe, dieses ekelhafte Zucken, wie kochende Gelatine mit Bläschenbildung. Das musste ruhen. Ja, ein wenig Ruhe wäre jetzt gar nicht schlecht. Er kniff die Augen zu, wandte seinen Blick in den schwarzen Mittagshimmel, jetzt, wo sie ihm die Sonne verdeckten. Dem Mann gingen noch Gedanken durch den Kopf, aber von welchem Nutzen waren sie schon? Er stellte sich Wolken vor, die gemächlich über seinen Himmel zogen, dunkelgraue tosende Wolken. Aber er ließ sie ziehen, lag auf dem Gras und war Betrachter, schaffte sich Stille. Das, lieber Typ, war Mindfulness. Der Gedanke ließ ihn einen Moment schmunzeln, dann schickte er ihn zu den anderen, sodass er vorüberziehen konnte. Nur noch spärlich bedeckt war sein Himmel, jetzt kam auch die Sonne langsam wieder durch. Ein strahlend weißes Licht, das selbst das ständige Fiepen in seinen Ohren übertönte und endlich die wohlverdiente Ruhe einkehren ließ.