Ausbruch (Kurzgeschichte)

Alles war anders, und er würde es sofort merken. Sie konnte die verbleibenden Bücher im Regal aber nicht noch großzügiger ausbreiten und für die Fotos auf der Kommode gab es einfach keinen Ersatz. Sie ließ sich im Flur an der Wand hinabsacken. Vor ihrem inneren Auge wurden die Bücher schon mit einem Schwung aus dem Regal gepeitscht, die Glasplatte der Kommode mit der Faust zertrümmert. Ihre beiden Umzugskartons standen verschlossen und verklebt an der Haustür und warteten mit ihr, ähnlich bewegungsunfähig. Ein Mantel fehlte in der Garderobe, den zweiten würde sie selbst nehmen, wenn sie das Haus verließ. Davor konnte alles nur schiefgehen. Sie würde es hier keine Stunde mehr aushalten, sie hatte viel zu schnell gepackt. Das Gefühl, nach Plan zu handeln, hatte nur so lange angehalten, wie sie ihre Habseligkeiten eine nach der anderen vom Platz genommen und in ihren Kartons verstaut hatte, so, wie sie es die vergangenen Tage wieder und wieder im Kopf durchgegangen war. Das verhaltene Glänzen war längst wieder aus ihren Augen gewichen. Aber er musste es gesehen haben, heute Morgen. Er würde sie nicht gehen lassen.

„Du musst bitte sofort kommen, ich muss weg“. Um ihre Freundin herum klackerten unverändert Tastaturen.

„Ich kann nicht noch früher hier weg, es tut mir so leid. Es ist doch nichts passiert, oder?“

„Ich kann nicht länger bleiben, er kommt jeden Moment wieder“. Sie starrte auf die Haustür, fensterlos. Sie würde aufschwingen und ihre Kartons an der Wand zerdrücken.

„Aber du meintest doch, es würde klappen vor seiner Mittagspause? Kannst du dir irgendwo Hilfe holen? Sind deine Nachbarn nicht zuhause, hat keiner ein Auto?“

Sie konnte nicht weg ohne ihre Sachen, das durfte er ihr nicht nehmen. „Bitte, wenn es nur irgendwie geht, –“

Das Schloss der Haustür schnappte und ließ sie stocken. Die Tür öffnete sich nicht langsam, sie wurde achtlos aufgeschwungen wie eh und je, aber die Sekunde, in der ihre Pläne ihr aus dem Kopf in den Hals sackten und einen eisigen Klumpen formten, erschien ihr unerträglich lang. Die Tür krachte in ihre Kartons und federte zurück, wurde noch einmal aufgedrückt, und er stand im Flur.

„Was soll die Scheiße?!“

„Oh Gott, ist er das? Ist er das?“. Seine Augen fanden ihre und ließen sie nicht mehr los.

„Du Miststück. Ich wusste, dass du etwas vorhast“. Die Kartons hatte er längst gesehen.

„Was passiert gerade? Bitte, rede mit mir, was ist los?“. Ohne sie aus den Augen zu lassen, griff er in einen der Kartons. Etwas in ihr sprang ihm ins Gesicht. Ganz oben, als letztes, hatte sie die Fotos verstaut. Jetzt hielt er Benjamin in der Hand, von vor zwei Jahren. Er würde doch nicht –

„Abhauen wolltest du, hm? Wie die Kinder?“. Die Tränen und flehenden Worte stauten sich in ihr zusammen, waren kurz davor, aus ihr hervorzubrechen. Doch als er den Rahmen nach ihr schleuderte, sprang sie davon, rollte sich auf dem Boden ab und schnellte hoch, Scherben lagen vor der Treppe und stachen ihr in den Socken, während sie die Stufen hinaufrannte. Sie hörte noch mehr Glas zerschellen, einen Schrei, er musste die Kartons bearbeiten. Das Telefon hielt sie noch umklammert.

„Rede mit mir, bitte! Was ist passiert?“. Die Stimme schien ihr fern. Sie schloss die Schlafzimmertür hinter sich, bekam mit ihren zitternden Händen kaum den Schlüssel gedreht, bis sie ihr Telefon auf das Bett warf und ihn in mit beiden Händen umklammerte. Sie war eingesperrt und hörte ihn die Treppe aufsteigen, gemächlich und wissend. Mit einem Blick zum Fenster – viel zu hoch – wich sie zurück, bis sie an das Bett stieß und hintenüberkippte. Sie schloss die Augen und versuchte zu atmen.

„Denkst du, ich finde das lustig? Ist das hier für dich ein Spiel?“. Ein Tritt krachte in die Tür. „Du machst uns kaputt“. Ihre Finger verkrampften sich in der Matratze. „Immer untergräbst du uns. Hintergehst du mich“. Ein Schlag. „Bin extra früher gekommen. Ich wusste einfach, dass du was vorhast“. Seine Worte schmerzten, aber sie konnte nicht sagen, wo. „Alles kaputt. Du wertloses Ding“. Alles falsch. Ihre Gedanken verließen sie. Sie wusste nicht, wer da vor der Tür stand. Bloße Starre hämmerte auf sie ein, es schmerzte, irgendwo. Unter dem Bett lag seine Eisenstange, mit der er noch nie einen Einbrecher vertrieben hatte. Sie sah ihn aus bloßer Lust danach greifen, ein Funkeln in den Augen, wenn er sie in seinen Händen umherwandern ließ, ihr Durchmesser gerade groß genug für seine Pranken. Sie schloss eine Hand um die geriffelte Oberfläche, spürte das Gewicht in ihrem Arm. „Ich zeig‘ dir, was du wert bist, warte nur“. Ein weiterer Tritt, diesmal erzitterte das Schloss. Sie erhob sich vom Bett und sperrte auf. Einen Moment wurde es still; sie trat ein paar Schritte zurück.

Die Tür öffnete sich. Die Eisenstange ließ ihn schmunzeln, doch als er in ihre Augen sah, verfinsterte sich seine Miene. „Glaub‘ ja nicht, dass du so davonkommst. Du hast es nicht anders verdient“. Eine Weile standen sie sich gegenüber, das gab ihr Zeit, in seinen Augen und in ihren Gefühlen nach etwas Fassbarem zu forsten. Sie fand sich hauptsächlich müde, zu müde, um sich noch zu fürchten. Die einzige Regung, die er ihr abgewinnen konnte, war ein halbherziger Schwung gegen seinen Schädel, als er nach vorne schnellte, die Hände zum Angriff nach ihr ausgestreckt. Sie verloren beide das Gleichgewicht, er fing sich zuerst wieder. In seinem Blick lag mehr Überraschung als Schmerz, er hielt sich kurz den Kopf. Dann sah er sie wieder an, wie sie die Stange mit beiden Händen vor sich hielt. „Nicht einmal das kannst du“.

Oh doch, konnte sie.