Der schmächtige Mann mit dem Dosenbier

Eine kleine Weihnachtsgeschichte frei nach Hans Christian Andersen.

Es war entsetzlich kalt. Grauer Schneematsch lag auf den Straßen, und Kunstlicht löste bereits die Sonne ab, die irgendwo hinter der Wolkendecke unterging. Es war der letzte Abend im Jahre, Silvesterabend. In dieser taghell ausgeleuchteten Kälte ging auf dem Bürgersteig ein schmächtiger armer Mann mit bloßem Kopfe und löchrigen Socken an den Füßen. Er hatte wohl Schuhe angehabt, als er aus seinem Schlafsack gekrochen war, aber was konnte das helfen! Es waren sehr große Schuhe. Die hatte letzten Frühling jemand am Altkleidercontainer abgestellt, und er hatte sie mit den Schnürsenkeln über seinen Knöcheln festbinden müssen, so groß waren sie. Diese Schuhe hatte der Mann verloren, als er über die Straße eilte, während ein Sportwagen mit viel Getöse vorüberjagte. Die Schnürsenkel hatten sich gelöst. Der eine Schuh war nicht wieder aufzufinden, und mit dem anderen machte sich ein streunender Hund aus dem Staube, welcher daran wohl etwas Essbares gerochen hatte.

Da ging nun der schmächtige Mann auf den dünnen, schmutzbraunen Socken, die vom Schneematsch ganz versifft waren. Mit zitternden Händen umklammerte er eine Palette Dosenbier. Die hatte er gerade im Laden gekauft, weil sie besonders günstig war und die Supermärkte in Erwartung der Silversternacht schon keine Glasflaschen mehr verkauften. Sein letztes Geld hatte er dafür ausgegeben, keinen Cent mehr in der Tasche. Hungrig und frostig schleppte sich der arme Mann weiter und sah schon ganz verzagt und eingeschüchtert aus. Nur seine Augen glänzten in verhaltener Freude, während die Schneeflocken ihm ins Gesicht stoben und auf den Dosen schmolzen.

Aus allen Fenstern strahlte heller Lichterglanz und in den Straßen verbreitete sich der Duft verschiedenster Köstlichkeiten. Es war ja Silvesterabend, und dieser Gedanke erfüllte alle Sinne des Mannes. Er war auf dem Weg zu seinen Kumpanen, die im Park ein Feuer entfacht hatten und ihn bestimmt schon erwarteten.

Der Weg war nicht mehr weit, doch die Kälte unerbittlich. In einem Hauseingang kauerte der Mann sich nieder. Seine dürren Beine hatte er unter sich gezogen, aber er fror nur noch mehr. Als er die Palette aus den klammen Händen legte, beschlichen ihn Zweifel. Wollte er sich wirklich bei seinen Freunden blicken lassen? Viele hatte er schon seit Wochen nicht mehr gesehen und wusste gar nicht, ob sie noch bei Gesundheit waren. Außerdem bezweifelte er, dass sie in diesem schneidenden Wind ein Feuer entfachen konnten, sodass es auch im Park bitterkalt sein musste, obgleich sie alle dicht aneinanderrücken würden.

Ach, wie gut musste ein Schlückchen tun! Wenn er nur wagen dürfte, eine Dose aus der für seine Freunde bestimmten Palette zu nehmen und zu probieren! Endlich zog der Mann eine heraus. Und ratsch, da sprühte das Getränk aus der Öffnung, noch lauwarm aus dem Supermarkt. Das Bier lief schal und wässrig die Kehle hinab und breitete sich im Körper aus, wie ein kleines Licht. Doch es war ein merkwürdiges Licht. Es kam schmächtigen Mann vor, als säße er in einer schummrigen, warmen Kneipe. Die Würze eines herben Gebräus lag ihm auf der Zungenspitze und schmeckte so wohltuend! Der Mann streckte schon die Hand aus, um sein Glas auf dem wuchtigen Eichenholztisch abzusetzen, da verflog der Geschmack. Die Kneipe verschwand, und der Mann hatte nur noch die leere Blechdose in der Hand.

Eine neue wurde aufgeschossen. Das Bier schmeckte und mundete, und plötzlich war die Tür, an der der Mann lehnte, durchlässig wie ein feiner Seidenvorhang. Er kippte hintüber und sah geradewegs in das Haus hinein, wo der Tisch mit einem blendend weißen Tischtuch und feinem Porzellan gedeckt war. Darauf dampfte ein Braten, köstlich mit Soße übergossen. Und was noch herrlicher war, der Braten sprang aus der Schüssel und stapfte mit Gabel und Messer im Rücken über den Fußboden auf den armen Mann zu. Da setzte er sich mit einem Ruck auf, und sein Rücken lehnte nurmehr am kalten Türblatt.

Er öffnete sich ein neues Bier. Da saß der Mann unter dem herrlichsten Weihnachtsbaum. Er war noch größer und reicher geschmückt als der, den er vor einigen Tagen durch die Schiebetür im großen Kaufhaus gesehen hatte. Eine Lichterkette von tausend Kerzen umschlang die grünen Zweige, und glitzernde Kugeln funkelten auf ihn hernieder. Der Mann streckte beide Hände nach ihnen in die Höhe, da fiel ihm das Bier aus der Hand. Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher, und er sah jetzt erst, dass es die Leuchtreklame am gegenüberliegenden Gebäude war. Einer der Neonbuchstaben begann in unregelmäßigen Abständen zu flackern und erlosch. Beinahe zeitgleich tönte ein lautstarker Knall durch die Straßen.

„Jetzt stirbt jemand“, murmelte der Mann zu sich, bevor ihm wieder einfiel, dass dies die Silvesternacht war. Vermutlich zogen ein paar Jugendliche durch die Straße und zündeten Böller, wie auch er selbst es früher getan hatte.

Der Mann öffnete sich wieder eine Bierdose, während die alte im Hauseingang auslief und ringsumher alles durchnässte. Beim ersten Schluck standen mit einem Male seine Jugendfreunde vor dem Hauseingang, strahlend und unternehmungslustig.

„Mensch, grüßt euch!“, sprach der Mann, „oh, wie ihr mir fehlt! Ich weiß, dass ihr verschwindet, sobald der Rausch vorübergeht. Ihr verschwindet, so wie ich damals verschwunden bin in die große Stadt, mit all meinen Plänen und Träumen!“ Schnell nahm er einen weiteren Schluck, kippte die ganze Dose hintüber und riss sich eine neue auf, eine nach der anderen, denn er wollte sich nicht in Schwermut verlieren. Der Alkohol stieg ihm zu Kopfe, dass ihm wohliger wurde als in der schummrigen Kneipe, als in der warmen Stube, als unter dem hellen Weihnachtsbaum. So wohl war ihm noch nie gewesen. Eine Turmuhr schlug Zwölf, und der Himmel explodierte in den wunderlichsten Farben. Der schmächtige Mann ließ sich gegen die Tür sinken, durch die er jetzt die Wärme fühlen konnte, die im ganzen Hause herrschte. Sie nahm ihn in sich auf und trug ihn im Glanze des Feuerwerks hoch empor. Kälte, Hunger und Trauer wichen von dem Mann, er war glücklich.

Im Eingang des Hauses saß am kalten Morgen ein schmächtiger Mann mit roten Wangen und mit Lächeln um den Mund. Er war tot, erfroren am letzten Tage des alten Jahres. Der Morgen des neuen Jahres ging über der dürren Leiche auf, die mit einer Palette Bier dasaß, die bis zur letzten Dose geleert war. „Er hat sich vergessen wollen“, sagte man. Niemand wusste, was er Schönes gesehen hatte, und dass er voller Wärme im stillen Glück aufgegangen war.

Das Original gibt es hier zu lesen: „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (um 1900). Sehr rührend ist auch die Vertonung der Geschichte als Passionsmusik durch David Lang: „The Little Match Girl Passion“ (2007).

Frohe Weihnachten!

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